JULIA EXTRA Band 0281
entfuhr es ihm. „Gibst du denn nie auf?“
„Nein.“ Nicht, wenn es um meine große Liebe geht, fügte sie in Gedanken hinzu. „Also kannst du es mir genauso gut erzählen.“
„Und wenn ich das tue, wirst du Madrid dann sofort verlassen?“
Tamsin presste die Lippen zusammen.
„Ich will dein Wort darauf.“
„Ja“, sagte sie und hatte das Gefühl, ihr Herz zerfiele in tausend Stücke.
Marcos ließ sich schwer in seinen Sessel fallen, sein Blick war starr und leer. „Ich war zwölf Jahre alt und machte mit meiner Familie Ferien in England. Ich wusste, dass mein Vater Schwierigkeiten mit seiner Arbeit hatte, doch irgendwie hat er uns davon überzeugt, dass sich alles zum Guten wenden würde. Wieso auch nicht? Das Recht war immerhin auf unserer Seite.“
Marcos schloss die Augen. „Aber er verlor vor Gericht und damit das Patent auf seine Erfindung, an der er zehn lange Jahre gearbeitet hatte. So war sein Lebenswerk quasi von einer Sekunde zur anderen vernichtet.“
„Und das war Sheldons Schuld?“ Tamsins Wangen brannten vor Scham. „Es … es tut mir so leid, Marcos.“
Er schien sie gar nicht gehört zu haben. „Über Nacht verwandelte sich mein Vater vor unseren Augen von einem selbstbewussten Giganten in einen wandelnden Schatten. Meine Mutter konnte nicht aufhören zu weinen. Mein Bruder Diego war erst neun und verstand nicht, was vorging, ebenso wenig wie ich. Aber ich war der älteste Sohn. Sie hatten meine Familie verletzt, und dafür sollten sie zahlen!“
„Was hast du getan?“, fragte sie sanft.
„Ich bin weggelaufen.“ Voller Selbstironie lachte er auf, und Tamsin spürte einen heftigen Stich im Herzen.
„Ich hatte Geld gespart, um Diego ein neues Taschenmesser zum Geburtstag zu kaufen, und dachte, es würde für einen Flug nach Madrid reichen. Dort wollte ich den Schuldigen finden und ihn zur Rechenschaft ziehen.“
So jung, dachte Tamsin beklommen. Hatte er wirklich zwei Drittel seines Lebens einem unsinnigen Racheplan gewidmet? Was machte das aus einem Menschen?
„Ich kam per Anhalter bis zum Londoner Flughafen“, berichtete Marcos weiter. „Meine Eltern vermuteten, was in mir vorging, kombinierten richtig und folgten mir in einem gemieteten Wagen. Es war ein sehr dunkler, regnerischer Abend, und auf der Autobahn gerieten sie ins Schleudern. Sie rutschten unter einen langsam fahrenden Truck und wurden von ihm förmlich zermalmt.“
Er brach ab und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Meine Eltern waren auf der Stelle tot, aber mein Bruder lebte noch eine ganze Stunde. Das war es zumindest, was man mir später sagte. Denn ich war nicht bei ihnen … ich stand am Flughafen und versuchte, für zwölf Pfund nach Madrid zu kommen …“
„Oh, Marcos …“ Tamsin griff nach seiner Hand. Tränen verschleierten ihren Blick.
„Du denkst auch, dass ich die Schuld an ihrem Tod trage, nicht wahr?“, fragte er heiser.
„Nein!“ So verstört sie war, so sicher und bestimmt war ihr Tonfall. „Es war nicht dein Fehler. Du warst doch ein Kind. Und du wolltest das Richtige tun. Wie hättest du wissen können …“
„Hör auf, mir etwas vorzumachen!“, fuhr er sie an. „Du hältst mich für schuldig! Ich kann es in deinen Augen sehen!“
„Du irrst dich.“ Nur mit Mühe zwang sie sich zur Ruhe und zu einem gelassenen Tonfall. „Ich liebe dich, und ich …“
„Ich pfeif auf deine Liebe!“, fuhr er sie grob an. „Ich verdiene sie nicht, und ich will sie auch gar nicht!“
„Marcos!“ Sie versuchte ihn zu umarmen, doch er schüttelte sie gereizt ab und trat einen Schritt zurück.
„Solltest du tatsächlich ein Kind von mir erwarten, wende dich an mein Büro, und ich werde dir alle Hilfe und Unterstützung zukommen lassen, die du benötigst“, erklärte er kühl. „Du brauchst dich nur an meine Anwälte zu wenden.“
„ Marcos!“, rief sie verzweifelt aus, doch das hörte er schon nicht mehr.
Das Domizil von Scheich Mohamed ibn Battuta al-Maghrib war eine imposante dreistöckige Zitadelle. Sie lag in der Nähe des Atlasgebirges, direkt an den Ufern des Flusses Tata – umrundet von einer ksar, einer befestigten Stadt.
Tamsin beschattete ihre Augen mit einer Hand und bewunderte den Sonnenuntergang hinter der Gebirgskette – das rosafarbene Licht wechselte zu einem grellen Pink, über ein samtenes Orange zu tiefem Rot. Sie faltete ihre Hände, um sie am Zittern zu hindern. Nach dem, was sie heute ausgestanden hatte, wunderte sie sich eigentlich,
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