Julia Extra Band 0292
Später verschwieg sie es aus Furcht, dass er ihr das Kind wegnehmen könnte.
Beinahe vier Jahre nach der Flucht aus Madrid ging es Shannay nun endlich wieder gut. Zumindest verlief ihr Leben in geordneten Bahnen. Vorsichtshalber hatte sie ihre Spuren sorgfältig verwischt und den Mädchennamen ihrer verstorbenen Mutter angenommen. Inzwischen besaß sie ein modernes Apartment in dem vornehmen Vorort Applecross und arbeitete als staatlich geprüfte Pharmazeutin in einer Apotheke ganz in der Nähe ihrer Wohnung. Ihre Schicht ging von fünf Uhr nachmittags bis Mitternacht. So konnte sie die Tage mit Nicki verbringen, und am Abend kam Anna, eine freundliche verwitwete Nachbarin, als Babysitterin.
„Kann ich Zuckerwatte für mich und Anna mitnehmen?“, bat Nicki. Mit engelhafter Miene versprach sie: „Ich putze mir danach auch ganz bestimmt die Zähne.“
„Ausnahmsweise“, erwiderte Shannay mit scherzhaft ernsthaftem Blick.
Nickis Gesicht strahlte. „Ich hab dich lieb, Mummy. Du bist die Beste!“
Lachend bückte Shannay sich und küsste sie auf die Wange. „Ich hab dich auch lieb, Kleine. Komm, kaufen wir Zuckerwatte. Und dann geht es ab nach Hause.“
Sie richtete sich auf und erstarrte reglos vor Schreck. Vor ihr standen zwei Menschen, die sie niemals wiederzusehen erwartet hatte.
Wie groß war schließlich die Chance, dass ihr je wieder ein Mitglied der Familie Martinez, die am anderen Ende der Welt lebte, über den Weg lief? Und noch dazu auf einem unbedeutenden Jahrmarkt am Stadtrand von Perth!
Sie hätte schwören können, dass ihr Herz einen Schlag lang aussetzte, bevor es wild zu hämmern begann.
„Shannay.“ Forschend blickte Sergio Martinez von ihrem Gesicht zu Nicki und wieder zurück.
Shannay reckte das Kinn vor. „Sergio.“ Kühl nicke sie Manolos jüngerem Bruder zu und wandte sich an die junge Frau an seiner Seite. „Luisa.“
„Mummy? Kommst du?“
Sergios Miene verhärtete sich. „Deine Tochter?“
Bevor Shannay antworten konnte, erklärte Nicki eifrig: „Ja. Ich heiße Nicki, und ich bin drei.“
In Sergios dunkle Augen trat ein vorwurfsvoller Ausdruck, der Shannay zutiefst beunruhigte. Sie wusste, dass er sich nur wegen des Kindes zusammennahm, keine bösartigen Vorwürfe auszusprechen. Aber sie wusste auch, dass der Zusammenhalt in der Familie Martinez sehr stark ausgeprägt war, und deswegen bestand nicht die geringste Chance, dass Sergio seine Entdeckung für sich behielt.
Nur mit Mühe widerstand Shannay dem Drang, sich Nicki zu schnappen und in ihre Wohnung zu flüchten, um zu packen und mit dem nächsten Flugzeug in einer anderen Großstadt unterzutauchen. „Würdet ihr uns bitte entschuldigen?“, murmelte sie steif. „Wir sind spät dran.“
Fest nahm sie Nicki bei der Hand, wandte sich ab und zwang sich, in gemäßigtem Tempo zum Ausgang zu gehen.
Stolz. Davon besaß sie reichlich. Ohne einen Blick zurück, mit kerzengeradem Rücken und hoch erhobenem Kopf, tauchte sie in der Menge unter.
„Wir haben die Zuckerwatte ganz vergessen“, maulte Nicki, als Shannay sie in den Kindersitz auf der Rückbank ihres Kleinwagens schnallte.
„Wir kaufen unterwegs welche, im Supermarkt.“ Shannay startete den Motor und ärgerte sich. Wären sie doch bloß nicht noch einmal Karussell gefahren!
Aber es hatte wenig Sinn, sich Vorwürfe zu machen.
In Grübeleien versunken, fuhr sie zu ihrem Apartment. Automatisch, beinahe wie in Trance, verrichtete sie die üblichen Dinge. Sie legte Nickis Sachen für die Nacht zurecht, bereitete das Abendessen vor und überließ alles Weitere Anna. Dann zog sie sich für die Arbeit um und fuhr zur Apotheke.
Irgendwie überstand sie den Abend, bediente freundlich die Kunden, gab Medikamente aus und erteilte Ratschläge. Doch ihre Nerven waren vor Sorge und Angst zum Zerreißen gespannt, und im Laufe des Abends stellten sich quälende Kopfschmerzen ein.
Shannay atmete erleichtert auf, als sie nach der Arbeit in ihr Apartment zurückkehrte. Sie verabschiedete Anna, sah nach Nicki und ging gleich zu Bett.
Doch in dieser Nacht fand sie lange keinen Schlaf.
Der Gedanke an die zu erwartende Reaktion ihres Noch-Ehemannes auf die Enthüllung, dass sie ein gemeinsames Kind hatten, war ihr beinahe unerträglich.
Kann ich nicht einfach behaupten, dass er gar nicht der Va ter ist?
Ein hohles Lachen erstarb in ihrer Kehle.
Manolo brauchte nur einen Vaterschaftstest zu verlangen.
Und dann?
Sie erschauerte.
Er war ein gewiefter Stratege mit
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