Julia Extra Band 0292
von dem mit Zinnen bewährten Dach und den ockerfarbenen Mauern reflektiert.
„Ich habe Angst“, entschlüpfte es Libby unfreiwillig, als die Limousine vor dem Eingangsportal hielt. Furcht vor den Erinnerungen, die sie plötzlich heimsuchten, vor der strengen Frau, die sie nie hatte leiden können, und vor allem Angst vor Giorgios Reaktion auf ihr Kommen.
„Das musst du nicht“, sagte Romano knapp, der ihre innere Panik völlig unterschätzte. „Er ist nur ein Kind, das versucht zu verstehen, warum es vor sechs Jahren von seiner Mutter im Stich gelassen wurde. Und jetzt komm, Angelica wird dir deine Zimmer zeigen.“
Libby lächelte der ältlichen Haushälterin scheu zu. Sie war das einzige freundliche Wesen, das ihr damals – natürlich außer Luca – in diesem antiken Gemäuer begegnet war.
„Wenn du dich frisch gemacht hast und so weit bist, findest du mich im Wohnzimmer.“ Damit war ihr Schwager verschwunden.
Stumm folgte Libby der rundlichen, munter vor sich hin plappernden Frau hinauf ins Obergeschoss, wobei sie sich neugierig umschaute. Erstaunt stellte sie fest, dass der Palazzo seit ihrem letzten Aufenthalt ein beachtliches Facelifting erhalten hatte. Alles erschien ihr viel heller und freundlicher.
Das elegante Wohnzimmer hatte sich allerdings kein bisschen verändert, wie Libby eine halbe Stunde später feststellte. Oder sie konnte es nicht sehen, weil ihr Blick gleich nach dem Eintreten von Romano festgehalten wurde, der in einem Sessel neben dem Kamin saß und von einer Zeitung hochschaute.
„Wo ist er?“, fragte sie rau. „Wo ist mein Sohn?“
Ihr Schwager stand bedächtig auf und hob eine dunkle Braue. „ Pazienza, cara … nur Geduld. Ich habe die beiden bereits davon unterrichtet, dass du hier bist.“
Die beiden? Ach, natürlich, dachte Libby benommen, Sofia Vincenzo residierte selbstverständlich auch im Palazzo .
Ihr Magen hob sich bedenklich, und während sie in Romanos unbewegtes Gesicht schaute, fielen die letzten Jahre plötzlich von ihr ab, und sie fühlte sich wieder wie das verschüchterte Mädchen von achtzehn Jahren. Voller Angst, einen schlechten Eindruck zu machen, und gleichzeitig auf eine Sympathie hoffend, die sie nie erfahren hatte …
Doch da war wenigstens noch Luca an ihrer Seite gewesen. Heute brauchte sie keinen Schutz. Sie war nur hier, um ihren Sohn zu sehen.
„Was denkst du gerade?“, fragte Romano im gleichen arroganten, selbstsicheren Ton, wie er es bei ihrer ersten Begegnung getan hatte. Und wieder verspürte sie dieses seltsame Kribbeln auf ihrer Haut und war sich seiner Gegenwart mit allen Sinnen bewusst – wie damals. „Hast du vielleicht ein Déjà-vu-Erlebnis?“
„Nein“, log Libby, ohne zu zögern, und befeuchtete ihre trockenen Lippen mit der Zungenspitze. „Heute liegen die Dinge ganz anders, Romano.“
„In der Tat …“, murmelte er gedehnt. „Jetzt brauchst du dich nicht mehr hinter einem Ehering zu verstecken.“
Sie begegnete seinem glitzernden Blick so gelassen wie möglich, doch als sich in diesem Moment die Tür in Romanos Rücken öffnete, weiteten sich ihre Augen. Sofia trat ein. Sie war sichtbar gealtert, mit silbergrauem Haar, aber immer noch die graziöse und hoheitsvolle Erscheinung, als die sie in Libbys Erinnerung weitergelebt hatte.
An ihrer Hand ein kleiner Junge, mit Lucas schwarzen Augen unter einer dunklen Lockenfülle …
Giorgio!
„ Zio !“, rief der Kleine begeistert aus und wäre auf Romano zugerannt, wenn seine Großmutter ihn nicht zurückgehalten hätte. Eine Hand lag auf der schmächtigen Schulter, während Sofia ihrem Enkel leise Instruktionen in ihrer Muttersprache gab.
„Guten Tag. Wie geht es dir?“,formulierte Giorgio sorgfältig auf Englisch – mit typisch italienischem Akzent – und schaute aus großen Augen zu seiner Mutter empor.
Libby hatte das Gefühl, ihr Herz müsse zerspringen, als sie sich instinktiv hinhockte, um mit ihrem Sohn auf Augenhöhe zu sein.
„Danke, sehr gut“, erwiderte sie mit bebender Stimme und konnte sich nur mit äußerster Willenskraft davon abhalten, ihren Sohn in die Arme zu nehmen. Stattdessen ergriff sie die ausgestreckte Kinderhand. „Und dir?“
Giorgio starrte sie einen Moment stumm an, ehe er den Blick zur Großmutter hob.
„Nonna hat mir erklärt, was ich sagen soll“, gab er verlegen zu und schaute dann Hilfe suchend zu seinem Onkel hinüber. Doch der lächelte nur, und zwar überraschend sanft, wie Libby erstaunt feststellte.
„Bist
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