Julia Extra Band 0292
eine Art Schockzustand versetzt. „Ich möchte nur eine Weile allein sein, wenn das möglich ist.“
Romano musterte kurz ihr wachsbleiches Gesicht und machte eine einladende Geste in Richtung der Treppe. Stumm folgte sie ihm die breiten Stufen hinauf. Die Suite, in die er sie führte, wirkte ebenso luftig und heiter wie die Räume im Untergeschoss, und das schmiedeeiserne Himmelbett mit der weißen Leinenüberdecke so einladend, dass Libby sich wie magisch davon angezogen fühlte.
Zum Glück zog ihr Schwager sich ohne ein weiteres Wort taktvoll zurück.
Leichte, transparente Schals vorm offenen Fenster bauschten sich in der angenehm kühlen Brise und filterten den atemberaubenden Blick auf den Golf von Neapel zur einen und den Golf von Salerno zur anderen Seite.
Doch all die Schönheit war an Libby verschwendet.
Wie konnte er nur?, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. Blind starrte sie aus dem Fenster, während heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Was hatte sie nur falsch gemacht? Libby fand einfach keine Antwort. Mit einem rauen Aufschluchzen wandte sie sich ab und warf sich bäuchlings aufs Bett.
Als sie wieder erwachte, schienen Stunden vergangen zu sein. Ihr war heiß, ihre Kleider waren zerknautscht, aber ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass sie nicht mehr als vierzig Minuten geschlafen hatte.
Libby sehnte sich nach einer Dusche, doch ihre Tasche, in der sie aus berufsbedingter Routine stets einen Kosmetikbeutel und frische Unterwäsche bei sich trug, lag irgendwo im Untergeschoss. Also machte sie sich auf den Weg und fand Romano im weitläufigen, halb offenen Wohnbereich auf einer weißen Couch vor seinem Laptop sitzen, den er auf dem niedrigen Tisch vor sich aufgebaut hatte.
„Ist es dir recht, wenn ich kurz dusche?“
Er schaute auf, lehnte sich gemächlich zurück und musterte ihr angespanntes Gesicht. Libby wirkte nicht nur schrecklich erschöpft, es war auch nicht zu übersehen, dass sie sich die Seele aus dem Leib geweint hatte.
„Fühl dich wie zu Hause.“
Es hörte sich an wie die Einladung zu einem exquisiten Ereignis, und Libby fragte sich zum ungezählten Mal, wie dieser Mann es fertigbrachte, sie mit wenigen harmlosen Worten völlig aus der Fassung zu bringen.
„Libby …“ Seine tiefe, warme Stimme rief sie zurück, als sie sich bereits abgewandt hatte. „Alles in Ordnung mit dir?“
„Sicher“, behauptete sie und hob in der für sie charakteristischen Art leicht die Schultern. Seine verstörende Anwesenheit und maskuline Ausstrahlung, die sie mit jedem Nerv ihres angespannten Körpers fühlte, verleiteten sie dazu, sich in bittere Ironie zu flüchten. „Ich kann nicht klagen. Immerhin hast du mir einen vergnüglichen Tag versprochen.“
Romano öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber offensichtlich anders. Entnervt ließ er seinen Kopf nach hinten auf die Sofalehne fallen, schloss die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Machte sie ihn etwa immer noch für den Zwischenfall im Café verantwortlich? Glaubte Libby womöglich, er habe ihn bewusst herbeigeführt und Teodoro quasi als Komplizen angeheuert?
Mamma mia! Als könnte er so grausam sein!
Doch wenn er ehrlich war, musste er schon zugeben, dass er Libby bis vor wenigen Stunden noch als Schuldige in dem Ehedrama seines jüngeren Bruders angesehen und für Lucas Untreue verantwortlich gemacht hatte.
Als Romano die Augen öffnete, war Libby gegangen. Frustriert stieß er einen unterdrückten Fluch aus und verpasste dem Sofakissen neben sich einen kräftigen Fausthieb. Dann schloss er den Laptop und machte sich auf den Weg in die Küche.
Wenn er Libby schon keinen Trost spenden konnte, wollte er wenigstens dafür Sorge tragen, dass sie in ihrem Kummer nicht auch noch verhungerte.
Unter dem kühlen Duschregen fühlte Libby, wie ihre Lebensgeister wiederkehrten. Auch der kurze Schlummer hatte ihr gutgetan, sodass die hilflose Verzweiflung langsam einem trotzigen Gefühl von verletztem Stolz wich.
Jetzt, im Nachhinein, erkannte sie, dass ihre Ehe nicht wie erträumt verlaufen war und sie mögliche Vorzeichen deshalb bewusst ignoriert hatte. Dazu gehörte auch Lucas mangelnde Begeisterung über die Tatsache, dass er Vater wurde … und die ständigen Ausreden, wenn er wieder mal bis in die Nacht hinein geschäftlich unterwegs war …
Sie hatte sein seltsames Verhalten immer wieder damit entschuldigt, dass sie in zwei völlig verschiedenen Welten aufgewachsen waren. Und den Fehler sogar
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