Julia Extra Band 0293
erpressen, versetzte ihr noch immer einen Stich.
Am nächsten Tag stieg die Temperatur ein wenig über null, und Eis und Schnee, die seit Wochen das ganze Land überzogen, begannen zu schmelzen. Während Caitlin und Sorcha ein reichhaltiges Frühstück aus Toast, Marmelade und Haferbrei zu sich nahmen, lief das Tauwasser an den Eiszapfen herunter, die an der lecken Regenrinne entstanden waren, und bildete eine rhythmische Geräuschkulisse.
Im Wohnzimmer erschien im Verlauf des Vormittags eine feuchte Stelle, von der es bald ebenfalls zu tropfen begann. Caitlin blieb nichts anderes übrig, als den Putzeimer unter dem Spülbecken hervorzuholen und damit das Wasser aufzufangen. Irgendwie schien ihr das Ganze wie ein Zeichen, dass Sorcha und sie sich tatsächlich nicht bis zu ihrer Rückkehr nach London im Cottage aufhalten konnten. Schon jetzt hatte sie den Eindruck, dass die feuchte Kälte aus den Mauern ihr in die Glieder kroch. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass ihr nur noch eine halbe Stunde blieb, bis Flynn sie abholen wollte.
Beim Kofferpacken kam ihr der Gedanke, dass es wie ein Sprung ins kalte Wasser wäre, jetzt zu Flynn zu ziehen. Doch bei der Vorstellung, mit ihm zusammenzuwohnen, regten sich auch die Schmetterlinge wieder in ihrem Bauch …
Auf dem Parkett von Flynns elegantem Salon sahen ihre beiden alten Koffer völlig unpassend aus. Caitlin war noch nie irgendwo abgestiegen, wo es nur halb so elegant gewesen wäre wie in Oak Grove. Sie hatte ihren Dufflecoat anbehalten und fühlte sich in Jeans und Sweatshirt genauso fehl am Platz, wie ihr Gepäck wirkte. Währenddessen erkundete Sorcha längst hüpfend Raum um Raum ihrer neuen Unterkunft. Flynn hatte sie vorher aufgefordert, sich ruhig überall umzusehen.
„Willst du nicht ablegen?“, fragte er jetzt und schloss die Tür, die zur großen Eingangshalle führte. Auch er trug lässige Kleidung – aber nicht irgendetwas Billiges von der Stange. Außerdem war er körperlich so gut in Form wie ein Held der keltischen Mythologie. Bei der Vorstellung, während der kommenden Tage mit ihm unter einem Dach zu leben, kam Caitlin sich ein bisschen vor wie ein Opferlamm. Mit den schwarzglänzenden Haaren, den jadegrünen Augen und dem markanten Kinn konnte er einem jungen Mädchen schon den Kopf verdrehen. So wie er es auch bei ihr vor gut vier Jahren getan hatte …
„Wenn ich ehrlich bin, ist mir immer noch ein bisschen kalt“, erklärte sie jetzt mit einem unsicheren Lächeln und ging näher an den Kamin heran, dessen Feuer wahrscheinlich von der Haushälterin angezündet worden war und nun den Raum mit einem gemütlichen Lichtschein erfüllte.
Während Caitlin sich die Hände daran wärmte, erklärte Flynn: „Ein Wunder, dass ihr beide euch in dem zugigen alten Cottage keine Lungenentzündung geholt habt. Warum seid ihr nicht schon gestern hergekommen?“
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich noch so viel erledigen musste. Dummerweise konnte ich nicht alle Sachen von Dad weggeben. Selbst bei einem Kirchenbasar wären sie nicht verkäuflich gewesen.“
„Wenn du willst, kannst du sie hier irgendwo einlagern.“
Mit ihren blauen Augen sah sie ihn erstaunt an. „Danke, aber es ist nichts Wichtiges dabei. Ich meine, ich hänge nicht besonders an materiellen Dingen, nur …“
„Nur, was?“
„Egal.“
Flynn war der Meinung, dass Caitlin heute besonders blass und müde aussah. Zweifellos forderte der Verlust ihres Vaters jetzt seinen Tribut, genauso wie die neuen Lebensumstände, was den Einzug bei ihm betraf. Aber er wollte nicht zu mitfühlend sein. Trotzdem gab es da etwas in ihm, das sich danach sehnte, diese hübschen blauen Augen wieder zum Leuchten zu bringen – ein trügerisch zärtlicher Impuls.
Doch diesem Drang nachzugeben wäre in jedem Fall gefährlich für ihn. Man konnte Frauen nicht vertrauen. Wenn ihm das inzwischen nicht klar geworden war, hatte er tatsächlich ein Problem. Die keltische Mythologie war voll von Beispielen, bei denen das weibliche Geschlecht seine Reize einsetzte, um die Männer zu umgarnen. Wenn er sich vor zukünftigen Enttäuschungen bewahren wollte, durfte er seinen Schutzschild bei Caitlin keine Minute herunterlassen. „Ich bringe deine Koffer ins Gästezimmer. Du und Sorcha werdet es dort ganz gemütlich haben.“
„Flynn?“
Als er den sanften Ton in ihrer Stimme hörte, blieb er wie angewurzelt stehen.
„Weißt du eigentlich …? Kannst du dir vorstellen, wie schwer das für
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