Julia Extra Band 0293
am Nachmittag und kam von da an jeden Morgen um acht.
„Was?“, fragte Peter herausfordernd, als Elias ihn verwundert ansah.
„Nur erstaunt“, erwiderte er. Die Welt steckte voller Überraschungen.
Doch die größte war, dass er auch nach Tagen, nach Wochen kein Zeichen von Tallie fand.
Seine Mutter, die von seiner Suche gehört hatte, war hocherfreut. „Ich wusste, du willst ein nettes griechisches Mädchen“, sagte sie glücklich. „Ich kann ein nettes griechisches Mädchen für dich finden, Elias.“
Aber Elias hatte genug von Ausflüchten. „Ich will kein anderes griechisches Mädchen. Ich will Tallie. Ich liebe Tallie.“
Er erzählte es jedem, weil er es ihr nicht sagen konnte.
Manchmal glaubte er, alles nur geträumt zu haben. Doch auch andere Menschen erinnerten sich an sie, sprachen von ihr, wünschten, sie wäre hier, damit sie über die Enkelkinder plaudern oder ihren köstlichen Apfelstrudel probieren konnten.
Selbst der stets nur mit sich selbst beschäftigte Martin hatte ihren Apfelstrudel nicht vergessen.
Eines Morgens, als Elias mit einem Kuchen aus der nahe gelegenen Bäckerei in den Aufzug trat, hatte er das Pech, Martin zu begegnen. Der schnupperte anerkennend. „Nicht so gut wie Tallies.“
„Nein.“ Zumindest in diesem Punkt konnte er mit ihm übereinstimmen.
„Sie ist eine fantastische Köchin“, fuhr Martin fort. „Es ist eine absolute Verschwendung ihres Talents, ein Praktikum bei einem Wiener Konditor anzufangen!“
Elias, der begierig darauf wartete, dass sich die Aufzugstüren öffneten, erstarrte. „Wie bitte?“, fragte er. „Sie hat was getan?“
„Sie hatte die unglaubliche Eingebung, Konditorin zu werden.“
„Konditorin?“ Elias starrte ihn an. „Wo?“
„Wiener Konditoren sind meistens in Wien.“
„Tallie ist in Wien? Woher wissen Sie das?“
Martin zuckte die Schultern. „Ich habe sie letzte Woche dort getroffen, als ich für meine Geschichte über die UNO recherchiert habe.“
Ihr Arbeitstag begann um vier Uhr in der Nacht. Noch vor ihrem Chef, Meister Heinrich, betrat Tallie die Backstube. Sie erledigte all die mühseligen Arbeiten, die zu ihrem Praktikum gehörten. Heinrich entsprach der wienerischen Version von Socrates Savas; sie musste sich von ganz unten hocharbeiten.
Sie schrubbte den Boden, maß Zutaten ab und knetete stundenlang die verschiedenen Teige. Morgens arbeitete sie in der Backstube, nachmittags im Laden.
Aber das kümmerte sie nicht, weil sie etwas tat, was sie liebte. Einst war Backen ihr Hobby gewesen, mit dem sie Stress abbauen konnte. Jetzt war es ihre Rettung.
Tallie war glücklich. Sie wurde gefordert. Sie lernte eine fremde Sprache. Und mittlerweile gab es sogar schon Stunden, in denen sie nicht den Verlust von Elias betrauerte.
Natürlich, rief sie sich ins Gedächtnis zurück, während sie die Auslage für den nachmittäglichen Ansturm der Schulkinder füllte, habe ich ihn nie wirklich gehabt. Sie hatten ’guten Sex’. Der Rest hatte sich nur in ihrer Fantasie abgespielt.
Die Ladentür öffnete sich und eine Frau kam herein. Frau Steinmetz, eine Stammkundin. Sie bestellte und ließ zu, dass Tallie ihre mageren Sprachkenntnisse an ihr ausprobierte.
Danach polterten die Schulkinder mit fröhlichem Lärm hinein. „Pfeffernüsse. Vanillekipferl. Powidlkolatschen“, lauteten die Bestellungen.
Tallie packte die Plätzchen in Tüten, gab Wechselgeld heraus und lachte mit den Kindern. Sie schaute ihnen nach, als sie eilig wieder aus dem Laden stürmten, und sah Elias in der Tür stehen.
Einen Moment meinte sie, ihren Augen nicht trauen zu können. So oft hatte sie von ihm geträumt, von seinem hübschen Gesicht, dem markanten Kinn, dem schlanken muskulösen Körper, dem schelmischen Grinsen.
Ihre Knie wurden weich. Ein flaues Gefühl schlich sich in ihren Magen. Sie schluckte, um den Kloß zu lösen, der sich auf einmal in ihrer Kehle gebildet hatte. Instinktiv griff sie nach der Ladentheke, um sich daran festzuhalten.
„Elias?“ Was machte er hier? Wie hatte er sie gefunden? Warum hatte er sie gefunden? Oder war es nur ein glücklicher Zufall, so wie die Begegnung mit Martin letzte Woche auf dem Stephansplatz?
Elias schloss die Tür hinter sich. „Tallie.“
Sie wollte zu ihm laufen, ihm die Arme um den Nacken schlingen, ihn festhalten und nie wieder loslassen. Aber sie konnte nicht. Nicht, wenn sie nicht wusste, warum er hier war.
„Kann ich dir helfen?“, fragte sie.
Seine Mundwinkel zuckten.
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