Julia Extra Band 0301
für dich anrufen?“ Als er das fragte, wurde ihm bewusst, wie wenig er eigentlich von ihr wusste – von der Frau, die sein Kind bekam. „Deine Mutter?“
„Meine Mutter ist tot.“
„Das tut mir leid. Soll ich jemanden Verwandtes anrufen?“
Als die aktuelle Wehe abebbte, öffnete Eileen die Augen. „Nein, da bin nur ich.“
Irgendwie machte ihm das ein furchtbar schlechtes Gewissen. Dass sie die ganzen Monate zuvor allein hatte durchmachen müssen, ohne irgendjemand, der ihr beistand. Doch dann fiel ihm ein, dass es ja ihre Entscheidung gewesen war.
Wenigstens war die Rushhour vorüber, und es herrschte kaum Verkehr. Doch Gianluca atmete erst auf, als der Fahrer den Hinweisschildern folgend um das Krankenhaus herum zur Notfallannahme fuhr.
„Wir sind da.“
Eileen öffnete mit zitternden Lidern die Augen und las das Schild. „‚Unfälle und Notfälle‘ – wie passend“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Das Baby war ein Unfall, und dies ist ein Notfall.“
Gianluca hätte beinah gelächelt, aber er wagte es nicht. Wenn sie sich jetzt nicht beeilten, kam sein Sohn oder seine Tochter noch hier auf dem Parkplatz zur Welt. Doch wie aus dem Nichts tauchten eine Hebamme und ein Arzt mit einem Rollstuhl auf, Eileen wurde im Laufschritt zum Kreißsaal gebracht – und dann brach das Chaos erst richtig los. Zumindest kam es Gianluca so vor. Er verließ kurz den Raum, um zu telefonieren. Danach wurde er von einer Unzahl von weiß gekleideten Menschen mit Fragen bombardiert, die er meist nicht beantworten konnte. Weil Eileen ihn ja im Dunkeln gelassen hatte, dachte er und wurde wieder unheimlich wütend.
„Sind Sie der Vater?“, fragte jetzt eine Hebamme.
Zumindest das konnte er beantworten, auch wenn er ihr plötzlich auf Italienisch antwortete. „Sì, io sono il padre!“
„Dann bleiben Sie bei der Geburt dabei?“
Eileens Kopf fuhr herum. „Nein!“
„Sì“ , widersprach ihr Gianluca bestimmt und sah ihr in die eisblauen Augen. „Ich bleibe.“
Aber sie wollte ihn nicht dabeihaben. Er sollte sie nicht in diesem verletzlichen Zustand sehen. Jetzt hoben sie ihr auch noch die Beine auf so ein Gestell wie beim Frauenarzt. Wie sollte sie ihm danach jemals wieder gegenübertreten? Peinlich berührt biss sie sich auf die Unterlippe und wandte dann wieder den Blick ab, während Wehe auf Wehe stärker wurde und in immer kürzeren Abständen kam.
Kurze Zeit später war ihr alles egal. Sie bekam ohnehin nur noch mit, wenn man ihr zurief, was sie tun oder besser nicht tun sollte. Nicht pressen, nicht verkrampfen! Und die Eileen, die es sonst nicht ausstehen konnte, die Kontrolle zu verlieren, wollte nur noch, dass die furchtbaren Schmerzen vorbeigingen, dass sie alles dafür getan hätte. Wäre sie nicht so erschöpft gewesen, hätte sie womöglich über die Ironie der Situation gelacht.
In diesem Augenblick kam noch ein Arzt ins Zimmer. Er war von seiner nahe liegenden Privatklinik herbeigeeilt, nachdem er entsprechende Direktiven von Gianlucas Arzt in Rom erhalten hatte.
„Bitte, holen Sie endlich dieses Kind!“, flehte Eileen, und Gianluca sah besorgt zu dem Arzt. Doch dieses eine Mal im Leben musste auch er die Kontrolle abgeben. Er wollte Eileen helfen, aber weder konnte er körperlich noch gefühlsmäßig etwas für sie tun. Denn als er ihre Hand nahm, entzog sie sich ihm und weigerte sich auch, ihn anzusehen.
Erst als die letzten Presswehen kamen, klammerte sie sich wieder an seine Hand. „Hilf mir“, flüsterte sie dann, „bitte hilf mir, Gianluca.“
„Es wird alles gut werden, cara “, versuchte er sie zu trösten, aber noch nie in seinem ganzen Leben hatte er sich tatsächlich so hilflos gefühlt.
Sie wandte das schweißnasse Gesicht ab. Gianluca log doch! Wie sollte das denn alles jemals gut werden?
„Gianluca, wollen Sie sehen, wie Ihr Kind das Licht der Welt erblickt?“, fragte da jemand. Gianluca sah Eileen an, und für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Sie wusste, dass sie ihm diesen Moment nicht verwehren durfte, nickte und wünschte, dass es anders zwischen ihnen wäre – normal. Dass sie wie andere Paare in dieser Situation wären. Aber ihr seid kein Paar, kam da wieder die schmerzliche innere Stimme, bevor eine weitere, ungleich schmerzvollere Wehe sie auslöschte.
Wie in Trance beobachtete Gianluca die letzten Momente der Geburt, die insgesamt Lichtjahre von dem Verlangen entfernt zu sein schien, das überhaupt zu dieser Zusammenkunft hier geführt
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