Julia Extra Band 0302

Reitunterricht, lernten Tiefseetauchen und Skilaufen. In jenem Jahr hatten sie sich eine Auszeit genommen, bevor sie an die Universität gehen wollten. Sie waren jung und offen für alles, sie hatten gefeiert und das Leben genossen. Niemand hatte geahnt, dass diese guten Zeiten so schnell ein jähes Ende finden würden.
    Es war Aimis Idee gewesen, abseits der Piste zu fahren, und Lori hatte zugestimmt. Sie hatten gewusst, dass es gefährlich war, doch sie hatten das Risiko nie gescheut. Also verließen sie den gesicherten Hang und waren mit einem Freudenschrei durch den Tiefschnee geglitten … und dann war es passiert. Ein Schneeüberhang weiter oben am Berg löste sich. Als sie die Lawine auf sich zurasen sahen, versuchten sie panisch, ihr auszuweichen. Aimi war zur Seite gesprungen in dem Glauben, Lori würde ihr folgen, doch Lori hatte sich für einen anderen Weg entschieden. Als Aimi im Schutz einer Baumgruppe zum Stehen kam und sich nach Lori umsah, realisierte sie, dass die Freundin nicht hinter ihr war. In einer Schrecksekunde sah sie, dass Lori direkt unterhalb der Lawine fuhr. Sie schrie, Lori solle zu ihr kommen, doch der Lärm der Schneemassen übertönte ihren Ruf. Dann war es zu spät. Aimi musste mit ansehen, wie Lori von der Lawine mitgerissen wurde.
    Seither trug sie die Schuldgefühle mit sich herum. Sie hatte den Tod ihrer besten Freundin zu verantworten. Ein anderer Skiläufer hatte das Drama beobachtet und Hilfe geholt, doch für Lori gab es keine Rettung. Es war Aimis Idee gewesen, im Tiefschnee zu fahren, und sie hatte gewusst, dass Lori ihr überallhin folgen würde. Wenn sie nicht diesen Nervenkitzel gebraucht hätte, könnte Lori noch leben. Es war ihr Fehler gewesen. Nun war sie tot, und niemand anders als Aimi trug die Schuld daran.
    Aimi hatte den toten Körper ihrer Freundin zurück nach England begleitet, und während dieses Fluges hatte sie geschworen, sich zu ändern. Sie wollte, dass die Menschen sie schätzten, sich auf sie verlassen konnten. Keine Partys mehr, keine ausgedehnten Einkaufsbummel, keine bedeutungslosen Flirts. Lori war tot, wie konnte sie da Spaß haben?
    Nicht nur Aimi selbst, auch Loris Eltern gaben ihr die Schuld an dem Unglück. Sie hatte es kaum ertragen, ihnen auf der Beerdigung zu begegnen, wo sie die Freundin ihrer toten Tochter vollkommen ignorierten. Mrs. Carteret hatte versucht, Aimi davon zu überzeugen, dass es ein tragischer Unfall war, doch Aimi kannte die Wahrheit. Es war ihr Fehler gewesen, und sie musste dafür büßen.
    Ihre Mutter war entsetzt, dass Aimi sich aus dem gesellschaftlichen Leben vollständig zurückzog. Sie stürzte sich in ihr Studium und später in die Arbeit, und schließlich fand sie eine Art inneren Frieden. Sie lernte wieder zu lachen und die Welt um sich herum wahrzunehmen, doch es war ihr niemals gelungen, sich selbst zu vergeben. Deshalb durfte sie sich nicht erlauben, all die Dinge zu erleben, die Lori niemals wieder vergönnt waren.
    Nichts hatte diese Prinzipien ins Wanken gebracht – bis sie Jonas kennenlernte. Er hatte in ihr Gefühle ausgelöst, von denen sie glaubte, sie niemals wieder zu erleben. Er hatte sie eingeladen, die Welt mit all ihren Genüssen wieder zu entdecken. So gern wäre Aimi seiner Einladung gefolgt, doch sie hatte das Gefühl, ihre Freundin damit zu betrügen. Wie konnte sie das übers Herz bringen?
    Es war ihr all die Jahre so einfach erschienen, ihr Versprechen zu halten. Doch jetzt spürte sie, dass ihre Entschlossenheit ins Wanken geriet. Wäre es wirklich so schlimm, sich ein bisschen Lebensfreude zu gönnen? Wäre es so falsch? Sollte sie das Risiko auf sich nehmen, wie Jonas es ihr geraten hatte?

6. KAPITEL
    Erst Stunden später kamen sie in London an. Der Wochenendverkehr hatte die Straßen vollkommen verstopft und die Fahrt zu einem Horrortrip gemacht. Aimi fühlte sich wie gerädert, denn die Hitze in der Stadt war noch unerträglicher als auf dem Lande. Sie wusste, dass in ihrer Wohnung vermutlich Backofentemperatur herrschte und sehnte sich nicht danach, nach vier wundervollen Tagen wieder dorthin zurückzukehren.
    Während der Fahrt war sie ständig von ihren Erinnerungen geplagt worden, durchlitt in Gedanken das schreckliche Erlebnis immer und immer wieder. Einige Jahre lang war sie von Albträumen heimgesucht worden, doch nach und nach waren sie verblasst. Aber es würde sie nicht überraschen, dachte sie, wenn sie heute Nacht wieder schlimm träumen würde.
    Als Jonas den Motor