Julia Extra Band 0315
zu schlafen, den sie nicht kannte. Aber er schien sie sehr gut zu kennen, und dass er sosehr auf Distanz blieb, war nicht unbedingt schmeichelhaft. Andererseits … was hatte sie erwartet? „Unter den gegebenen Umständen ist es wohl verständlich.“
Er blickte sie scharf an. „Was meinst du?“
„Ich erinnere mich vielleicht nicht an unsere Hochzeit, aber ich bin nicht blind. Ich sehe aus wie eine Vogelscheuche.“
„Du musst dich von einem Unfall erholen, bei dem du fast das Leben verloren hättest. Du kannst nicht erwarten, dass du aussiehst wie vorher.“
„Trotzdem. Mein Haar …“ Unzufrieden zupfte sie an den kurzen Strähnen.
Er griff nach ihrer Hand. Eine Geste, die ein Vater machen würde, um sein Kind davon abzuhalten, an einer verheilenden Schürfwunde zu kratzen. Doch so harmlos es auch hatte sein sollen … seine Berührung jagte einen Stromstoß durch ihren Körper, elektrisierte sie an Stellen, die man in der Öffentlichkeit nicht laut erwähnte. Unwillkürlich presste Maeve ihre Knie zusammen wie eine Jungfrau zur Verteidigung ihrer Unschuld.
Nur gut, dass er ihre Gedanken nicht erraten konnte. Oder vielleicht konnte er es doch, denn er ließ ihre Hand los.
„Du hast wunderschönes Haar. Es erinnert mich an die Sonne, wenn sie auf Satin fällt.“
„Es ist zu kurz.“
„Es gefällt mir. So sieht man mehr von deinem schönen Gesicht. Du bist schön, auch wenn dir das im Moment vielleicht anders vorkommt.“
Selbst wenn er das Kompliment so nüchtern wie ein Preisrichter bei einer Hundeausstellung vorgebracht hatte, es war mehr, als sie erhofft oder verdient hatte.
Nach ihrem Bad war sie in den Ankleideraum gegangen, um etwas zum Anziehen für sich zu suchen. Die Auswahl war wahrlich groß genug. Unterwäsche und Dessous lagen fein säuberlich in Kommoden geordnet, in den Schränken fand sie luftige Sommerkleider, Röcke und Tops, dazu zwei oder drei elegante Dinneroutfits, Unmassen an Sandalen und Sandaletten sowie Strohhüte. Nichts übertrieben Formelles, aber alles erlesene Qualität, extravagant und teuer.
Sie hatte sich für solide Unterwäsche aus Baumwolle und den fließenden dunkelvioletten Kaftan entschieden, weil dieser ihrer abgemagerten Figur noch am ehesten schmeichelte. Was sie im Spiegel sah, gab ihr zumindest den Mut, Dario im Haus zu suchen, doch jetzt, unter seinem prüfenden Blick, wand sie sich.
„Du bringst mich in Verlegenheit“, murmelte sie.
„Aber wieso? Du bist bezaubernd. Ich werde kaum der erste Mann sein, der dir das sagt.“
„Nein, mein Vater hat’s auch immer gesagt. Aber er war parteiisch. In Wahrheit war ich das hässliche Entlein, vor allem als Teenager.“
„Das glaube ich unbesehen.“
Ihr stand der Mund offen. „So?“
„Natürlich. Wie sonst hättest du dich in einen so eleganten Schwan verwandeln können?“
Er lachte, und plötzlich fiel sie in sein Lachen mit ein. Es war so lange her, seit sie gelacht hatte. Es bewirkte etwas Erstaunliches. Es löste den harten Knoten in ihrem Innern, sie fühlte sich frei und unbeschwert, zum ersten Mal seit Wochen. „Danke. Es ist nett, dass du das sagst.“
„Du selbst bist dein unerbittlichster Kritiker, Maeve.“ Er strich leicht über ihre Hand. „Was hat dich dazu gemacht?“
„Ich würde annehmen, dass ich es dir bereits erzählt habe. Schließlich sind wir verheiratet.“
„Mag sein. Aber da wir von vorn anfangen … Erzähle es mir noch einmal.“
„Ich war schon immer schüchtern, doch in der Pubertät wurde es noch schlimmer. In einer Gruppe war ich immer regelrecht versteinert. Meine Eltern schickten mich auf eine Mädchenschule, als ich dreizehn war. Ich musste die wenigen Freunde, die ich hatte, zurücklassen und betrat eine Welt, in der ich der Außenseiter war.“
„Du hast keine neuen Freunde gefunden?“
„Nicht wirklich. Mädchen können als Teenager sehr grausam sein. Ich wurde nur geduldet oder komplett ignoriert. Ganz unschuldig daran war ich nicht, weil ich mich immer mehr zurückzog und nicht aufzufallen versuchte. Was nicht leicht ist, wenn man größer als alle anderen ist und schrecklich schlaksig. Das lange Haar wurde zu einer Art Besessenheit, weil ich mich dahinter verstecken konnte.“ Sie nippte an ihrem Glas und schaute auf das Meer hinaus. „Ich wünschte mir, so zu sein wie die anderen, offen, selbstsicher, kess, doch ich war eben ich. Eine graue Maus. Schulisch akzeptabel, aber gesellschaftlich langweilig und fad.“
„Und wann hat sich
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