Julia Extra Band 0316
glatt und stieß die eine Türhälfte mit den diagonalen Fensterscheiben auf.
In der Eingangshalle herrschte noch ziemliches Chaos, aber es war deutlich sichtbar, wie beeindruckend sich dieser Bereich demnächst präsentieren würde. Den Boden aus weißem Marmor begrenzte eine schwarze Bordüre im Mäandermuster, unter einer Hülle konnte man die Konturen eines Empfangstresens erkennen, der den geschwungenen Linien nach ein Original aus den Dreißigerjahren war.
Zwei Männer in eleganten Anzügen, vermutlich die Architekten, standen an der Doppeltür gegenüber dem Eingang und unterhielten sich angeregt, während sie einen Bauplan zwischen sich hielten, auf den sie immer wieder zeigten.
Alice blieb mitten im Raum stehen, den Schulranzen fest an sich gepresst, und sah sich um, ob sie Cameron irgendwo entdecken konnte.
„Alice?“, erklang seine tiefe Stimme plötzlich.
Ihr Herz schien einen kleinen Sprung zu machen. Wo war er denn? Es klang, als wäre er ganz nahe, aber sie konnte ihn nicht entdecken.
Da blickte der größere der beiden Männer sie eindringlich an, und nun begann ihr Herz wie wild zu pochen. Und zwar nicht vor Nervosität!
Die Zeit schien plötzlich stillzustehen, und ihr stockte der Atem.
„Alice!“, sagte der Mann nochmals.
Langsam ging sie auf ihn zu und spürte, wie sie bis ins Innerste erschauerte. Nicht vor Angst, o nein, sondern weil Empfindungen sie durchfluteten, die sie bisher nicht kannte. Oder nur aus Liebesromanen. Natürlich hatte sie sich schon zu Männern hingezogen gefühlt, aber nie auf diese überwältigende, geradezu magnetische Weise, bei der ihr die Knie weich wurden.
Am liebsten hätte sie sich hingesetzt. Oder irgendwo angelehnt.
Am liebsten an seiner Schulter …
Mit ausgestreckten Armen kam er auf sie zu, und ihr blieb genug Zeit, ihn gründlich zu betrachten. Er war natürlich noch immer groß, jetzt allerdings nicht mehr dünn, sondern kräftig und durchtrainiert, zum Glück aber nicht übertrieben muskulös. Das früher etwas zottelige Haar war jetzt kurz geschnitten, das Gesicht markant und reifer. Der Mund wirkte ein bisschen hart mit den zwei scharfen Falten neben den Winkeln, aber die goldbraunen Augen, Tigeraugen, leuchteten noch genauso wie früher.
Ja, das war wirklich Cameron!
„Hallo“, begrüßte Alice ihn befangen und hielt ihm die rechte Hand hin. Was ein Fehler war. Er umfasste ihre Finger, und ein Stromschlag schien sie zu durchzucken. Dann neigte Cameron sich lächelnd zu ihr und küsste sie zart auf die Wange.
Alice fiel der Schulranzen aus der Hand.
Cameron hob die Schultasche auf und reichte sie Alice, die sie fest an sich presste.
Schade, dachte er schwer enttäuscht. Alice zählte doch zur Kategorie der Quallen! Das hatte er deutlich am Zittern ihrer schmalen Hand gespürt.
Trotzdem lächelte er nun freundlich und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Gefühle zu zeigen war nicht seine Art. Es konnte zu viel kosten, Schwächen erkennen zu lassen.
Ja, sie hatte ihn wieder überrascht, aber dieses Mal war es keine angenehme Überraschung.
Wo war die Alice geblieben, mit der er noch vor Kurzem telefoniert hatte? Die junge Frau voller guter Ideen, Humor und Begeisterung?
Nun folgte sie ihm durch sein neues Reich, ohne ein Wort zu sagen. Das helle Treppenhaus mit dem ursprünglichen Geländer aus Schmiedeeisen entlockte ihr ebenso wenig einen Kommentar wie die eckigen Deckenlampen, ebenfalls aus den Dreißigerjahren, oder die Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Ab und zu machte sie Fotos mit einer kleinen Digitalkamera, das war alles.
Schließlich war er es leid, nur seine eigene Stimme zu hören. Er ließ den Architekten Jeremy kommen, der die weiteren Erklärungen nur zu gern übernahm.
Auch ihn sah Alice nur stumm mit ihren großen, grünbraunen Augen an, dann nahm sie einen Block aus der Tasche und machte sich gelegentlich Notizen.
Zuletzt gingen sie zum Atrium, wo die Eröffnungsparty stattfinden sollte. Der ehemalige zentrale Lichthof der Brotfabrik war nun völlig mit Glas überdacht und stellte sozusagen das Herz des Gebäudes dar. Sie betraten es jedoch nicht im Erdgeschoss, denn Cameron wollte es Alice aus der Vogelperspektive zeigen.
Seine Bürosuite lag im obersten Stockwerk, davor ragte auf ganzer Breite ein Balkon übers Atrium. Von dort aus würde er sein Territorium überblicken können – im wahrsten Sinne des Wortes.
Und von dort aus würde Alice den richtigen Eindruck von den Ausmaßen des Lichthofs
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