Julia Extra Band 0316
unter dem Schreibtisch gesessen, wäre ihr das falsch angeschlossene Kabel erst Stunden später als mögliche Fehlerquelle in den Sinn gekommen.
So gesehen profitierte Mr. Rogers von ihrer Auszeit.
Sie kroch unter dem Schreibtisch hervor und dehnte sich genüsslich.
Cameron erschien früh auf der Baustelle, da er sich von seinem Vorarbeiter über die jüngsten Fortschritte informieren lassen wollte, bevor er Alice das Areal zeigte.
Er wurde gebeten, einen Schutzhelm zu tragen, obwohl es eigentlich nicht mehr nötig war, denn es fehlten nur noch letzte Arbeiten wie das Montieren von Steckdosen oder Lampen und hier und da das Verlegen von Teppichböden.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er Alice in einer Stunde treffen würde. Er freute sich auf das Wiedersehen mit ihr. Sie war damals ein sehr nettes Mädchen gewesen: ein bisschen unsicher, wie in dem Alter üblich, aber intelligent und freundlich. Am Telefon hatte sie geklungen, als wäre sie noch immer so warmherzig, dazu auch begeisterungsfähig.
Es hatte ihn gefreut, mal wieder ein richtiges Gespräch zu führen und Gedanken auszutauschen, statt immer nur Befehle zu geben.
Wie mit einem Freund …
Cameron besaß nicht viele Freunde. Auf seinem Weg nach ganz oben hatte er keine Zeit gehabt, Freundschaften zu pflegen. Jetzt fielen die meisten Männer, mit denen er zu tun hatte, in zwei Gruppen: Kollegen oder Konkurrenten.
Und egal ob das eine oder andere, die meisten zeigten ihm nie ihr wahres Gesicht, weil sie ihn entweder als Boss beeindrucken oder etwas zu ihrem Vorteil von ihm erfahren wollten.
Und Frauen … ja, die ließen sich ebenfalls in zwei Kategorien einteilen: in Tigerinnen und Quallen.
Tigerinnen wie Jessica machten kein Geheimnis daraus, dass sie ihn – und vor allem sein Vermögen – attraktiv fanden. Das störte ihn nicht, solange ihnen klar war, dass sie nicht mit einer dauerhaften Beziehung rechnen konnten. Er behandelte sie wie Prinzessinnen, aber sie durften sich nicht einbilden, er suche eine, die den Thron mit ihm teilte. Prinzessinnen auf Zeit, mehr waren sie nicht.
Die Quallen hingegen, zu denen seine jetzige Assistentin Stephanie zählte, zitterten wie Götterspeise, wenn sie mit ihm zu tun hatten. Trotzdem konnte man in ihren Blicken lesen, dass sie ihn attraktiv fanden. Sie waren nur zu feige, es sich anmerken zu lassen.
Beide Verhaltensweisen, gestand Cameron sich ein, gingen ihm allmählich schrecklich auf die Nerven.
Alice konnte er in keine der beiden Kategorien einordnen, und das machte sie automatisch faszinierend. Soweit er sich erinnerte, hatte sie damals recht hübsch ausgesehen, auf eine eher unauffällige Art. Sie hatte wunderschöne Augen, die je nach Lichteinfall von Grün zu Braun changierten, und prächtiges Haar.
Irgendwie hatte sie ihn an ein hässliches Entlein erinnert, das kurz davorstand, sich in einen anmutigen Schwan zu verwandeln. Ja, in der sozusagen schlichten Hülle verbarg sich bestimmt ein schillerndes, aufsehenerregendes Wesen …
Unwillig schüttelte Cameron den Kopf. Was dachte er da nur wieder? Das war genau sein Problem mit Frauen. Er ließ sich von seinen Fantasien mitreißen und war dann desillusioniert, wenn die Frauen nicht seinen Vorstellungen entsprachen.
Immerhin erwartete er nichts von Tigerinnen wie Jessica, daher bestand kaum die Gefahr, dass er sein Herz verlor und schließlich wirklich enttäuscht wurde.
Ja, es war besser, andere nicht zu nah an sich heranzulassen. Wer einem nahestand, bildete sich ein, urteilen zu dürfen. Aus der Nähe entdeckten sie Eigenschaften und Fehler, die einem selber entgangen waren, und warfen sie einem vor. Darauf konnte er verzichten. Man hatte ihn in seinem Leben schon zu oft kritisiert!
Jetzt war er derjenige, der sich ein Urteil über andere bildete. Und wenn diese anderen ihn genauer betrachteten, ihn sozusagen unters Mikroskop legten, sahen sie nur eins: Er war der Beste und konnte sich bei allem das Beste leisten.
Er hatte jahrelang schwer gearbeitet, um an die Spitze zu gelangen.
Nun war er am Ziel.
Eine hohe Umzäunung aus Sperrholzplatten umgab den neuen Firmensitz von Orion Solutions, daher konnte Alice nichts von dem Gebäude sehen. Da sie nicht weit von hier aufgewachsen war, erinnerte sie sich jetzt wieder an die ehemalige Brotfabrik, die mehr als zehn Jahre leer gestanden hatte. Mit zerbrochenen Fensterscheiben und bröckelndem Verputz.
So kurz vor dem Wiedersehen mit Cameron wurde es Alice plötzlich flau zumute. Coreen
Weitere Kostenlose Bücher