Julia Extra Band 0318
verspürte, der kleinen Straßensängerin zu helfen, hatte er keinen Moment lang daran gedacht, ihr einen Job anzubieten. Doch dann hatte er sich plötzlich die Worte aussprechen hören, als kämen sie aus dem Munde eines anderen.
Dabei war er nach England gekommen, um Ruhe, Einsamkeit und ein ungestörtes Privatleben zu suchen. Ricardo, den Eduardo aus Rio mitgebracht hatte, war ihm vertraut, und die Mitarbeiter der Reinigungsfirma konnte er leicht auf Abstand halten. Aber einer jungen Frau, die er kaum kannte, anzubieten, unter seinem Dach zu leben und für ihn als Haushälterin zu arbeiten, war etwas völlig anderes. Andererseits brauchte er tatsächlich eine Haushälterin, und als er Marianne zitternd in der Kälte hatte stehen sehen, schien es ihm auf einmal die ideale Lösung zu sein.
Aber das war jetzt ohnehin nicht mehr wichtig, denn sie hatte sein Angebot rundheraus abgelehnt – was er im Grunde erwartet hatte. Dennoch traf ihre Abweisung Eduardo tiefer, als er zugeben wollte. Außerdem ging ihm die Tatsache nicht mehr aus dem Kopf, dass Marianne Lockwood kein Teenager mehr war, sondern bereits vierundzwanzig.
Eine erwachsene Frau!
Er dachte an das Feuer in ihren mandelförmigen haselnussbraunen Augen, als sie sich seine Einmischung in ihr Leben verbeten hatte, und spürte einen Hitzestrom in sich aufsteigen. Verärgert unterdrückte er die unerwünschte Empfindung und nahm sich stattdessen vor, seine Energien von jetzt an auf seine Genesung zu richten. Er würde sich streng an Dr. Powells Anweisungen halten und fest daran glauben, dass er sich eines Tages wieder so würde bewegen können wie vor dem Unfall – selbstbewusst, kraftvoll und ohne jede Spur von Plumpheit.
Vor dem großen ovalen Spiegel im Bad betrachtete Eduardo die Spuren, die körperlicher und seelischer Schmerz und chronischer Schlafmangel in sein Gesicht gegraben hatten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als einen Tag nach dem anderen anzugehen. Doch es fiel ihm schwer, eine Zukunft für sich zu sehen, die weniger trost- und glücklos war als seine Gegenwart.
Wie sollte so eine Aussicht auch bestehen, solange er Nacht für Nacht den furchtbaren Unfall wieder durchlebte, dem die beiden Menschen zum Opfer gefallen waren, denen er am meisten auf der Welt verbunden war?
Den Unfall, an dem er die Schuld trug.
3. KAPITEL
In jener Nacht herrschte schweres Schneegestöber. Nachdem Marianne am nächsten Morgen mit dem Schneeschippen fertig war, räumte sie das Haus auf und machte sich einen Tee. Dann setzte sie sich ans Klavier und arbeitete an dem Song weiter, den sie vor einer Woche begonnen hatte. Es kam aber nicht viel dabei heraus, da sie ständig gegen eine tiefe Traurigkeit ankämpfen musste, die sie immer wieder zu überwältigen drohte. Schließlich zog sie Mantel und Stiefel an, setzte sich eine Mütze auf und ging hinaus.
Die eisige Luft raubte ihr den Atem und trieb ihr die Tränen in die Augen. Aber ihre Stimmung hob sich augenblicklich, als sie den klaren blauen Himmel über sich sah. Sie ging in den nahe gelegenen Park und sah eine Weile den Kindern zu, die den glitzernden, verschneiten Hügel hinab rodelten und einander lachend und kreischend mit Schneebällen bewarfen. Ihre Lebensfreude schien alles wieder in die richtige Perspektive zu rücken und erfüllte Marianne mit neuer Zuversicht.
Wieder zu Hause, war sie fest entschlossen, jede düstere Erinnerung zu bekämpfen, die sie in ihren Trübsinn zurückstoßen könnte. Als die Dämmerung einsetzte, machte sie alle Lichter im Haus an, zog die Vorhänge zu und setzte sich vor den Kamin. Sie beobachtete, wie die Flammen an den knackenden Holzscheiten leckten, und überlegte, wie es mit ihrem Leben weitergehen sollte.
Donal hätte nicht gewollt, dass sie sich selbst bemitleidete, so viel stand fest. Doch kaum hatte dieser Gedanke in ihrem Kopf Gestalt angenommen, da brach Marianne auch schon in Tränen aus. Eine unaufhaltsame Flut von Schmerz und Traurigkeit, die sie so lange zurückgehalten hatte, brach sich Bahn. Sie weinte, bis sie völlig erschöpft war und keine Tränen mehr hatte.
Um kurz vor Mitternacht ging sie nach oben, rollte sich wie ein Baby in ihrem Bett zusammen und zog sich die Decke über den Kopf. Alles in ihr fühlte sich taub und leer an. Doch kurz bevor sie die Augen schloss, schwor Marianne sich, nie wieder in einer so tiefen Hoffnungslosigkeit zu versinken. Morgen war ein neuer Tag, und sie nahm sich vor, das erste Tageslicht als Omen für einen
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