Julia Extra Band 0318
Drang nach Selbstbestrafung. Einfach erbärmlich!
„Und Sie sind vollkommen unversorgt zurückgeblieben.“ Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Außerdem lieferte es ihm die Erklärung dafür, dass diesem armen Mädchen nichts anderes übrig geblieben war als auf der Straße zu stehen und praktisch zu betteln.
Doch Marianne schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Donal hat mir sein Haus und eine beträchtliche Summe Geld hinterlassen.“
„Aber … warum haben Sie dann Tag für Tag in der Kälte gestanden und für ein paar Cent gesungen?“
„Weil ich meine Angst überwinden wollte, vor Publikum aufzutreten. Ich sagte Ihnen ja schon, dass Musik meine Leidenschaft ist. Ich wollte besser werden, um eines Tages vielleicht in einer Band mitspielen und davon leben zu können.“ Sie schwieg einen Moment, bevor sie hinzufügte: „Außerdem war es eine gute Übung, um nach allem, was geschehen war, wieder etwas Mut und Selbstvertrauen zu gewinnen.“
Noch immer hatte Eduardo Mühe, sich auf die neue Situation einzustellen. „Dann sind Sie abends also nicht in eine Herberge oder … Notunterkunft gegangen?“
„Nein. Tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck erweckt habe.“
„Was ist denn mit dem Haus und dem Geld geschehen, das Sie geerbt haben? Warum haben Sie mich angerufen und behauptet, Sie bräuchten einen Job und ein Dach über dem Kopf?“
Eine Mischung aus Zorn und Enttäuschung ergriff Eduardo. Er fühlte sich von Marianne benutzt und hinters Licht geführt, auch wenn ihm nach wie vor unklar war, warum sie dieses Spiel mit ihm gespielt hatte. War sie in Wahrheit eine raffinierte Goldgräberin, die sich systematisch an wohlhabende Männer heranmachte? Schon bei dem Gedanken drehte sich sein Magen um.
„Als ich Sie anrief, war ich tatsächlich auf Ihre Hilfe angewiesen.“ Nervös nestelte Marianne am Gürtel ihres Morgenmantels. „Ich brauchte einen Job, weil … weil ich das Haus, das Geld und alles andere, was meinem Mann gehört hatte, seinen erwachsenen Kindern überlassen habe.“
„Er hatte erwachsene Kinder?“ Zwischen Eduardos Brauen bildete sich eine steile Falte. „Wie alt ist Ihr Mann denn gewesen?“
„Er war neunundfünfzig, als wir uns kennenlernten.“
Marianne ging zu einem der Fenster und wandte Eduardo für einen Moment den Rücken zu. Als sie sich wieder umdrehte, lag ein bittersüßes Lächeln auf ihren Lippen.
„Donal war ein guter Mann“, sagte sie leise. „Liebenswürdig, ehrlich und mitfühlend. Wir sind schon nach kurzer Zeit sehr gute Freunde geworden, und als er mich bat, seine Frau zu werden, habe ich Ja gesagt. Sechs Monate später starb er, und als sich herausstellte, dass er mich zu seiner Alleinerbin eingesetzt hatte, haben seine Kinder sich sofort einen Anwalt genommen und das Testament angefochten. Sie behaupteten, ihr Vater müsse geistig umnachtet gewesen sein, um etwas so Ungeheuerliches zu tun.“
Beim Gedanken an all die hässlichen Briefe, die sie bekommen hatte, presste sie kurz die weichen Lippen zusammen. „Ich habe Donal nie darum gebeten, mir etwas zu hinterlassen. Er hat es in bester Absicht getan, aber letztlich hat dieses Erbe mir das Leben nur noch schwerer gemacht. Ich wollte nichts weiter, als in Frieden um ihn trauern und versuchen, irgendwie mit dem Verlust fertig zu werden. Also habe ich Michael und Victoria einen Brief geschrieben und ihnen mitgeteilt, dass sie das Haus und alles andere haben können.“
Mit einem schwachen Lächeln breitete sie die Hände aus. „Sie sehen also, dass ich Sie nicht belogen habe. Ich wollte Ihnen das alles schon viel früher erzählen, aber irgendwie schien es mir nie der richtige Zeitpunkt zu sein.“
Eduardo war zu betroffen, um etwas zu erwidern. Wie viele Frauen mochte es geben, die in der Lage wären, das zu tun, was Marianne getan hatte? Flüchtig fragte er sich, was ihr Mann wohl von dieser Geste gehalten hätte. Im Grunde aber interessierte es ihn sehr viel mehr, warum sie jemanden geheiratet hatte, der mehr als doppelt so alt war wie sie selbst.
Am bedeutsamsten war für ihn jedoch die Erkenntnis, dass ihn eine existenzielle Erfahrung mit Marianne verband: Genau wie er hatte sie auf tragische Weise ihren Ehepartner verloren. Sie wusste also, was es bedeutete, das dunkle Tal der Verzweiflung zu durchwandern, in dem nichts existierte als Trauer, Schmerz und abgrundtiefe Einsamkeit. Nur, dass es ihr erspart geblieben war, zusätzlich noch die Last der Schuld zu tragen.
Aber das
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