Julia Extra Band 0318
Mauer. An manchen Stellen wurde der Pfad so eng, dass sie gezwungen waren, hintereinander zu gehen. Marianne atmete tief die kalte, klare Luft ein und stellte sich vor, was für eine Wonne es sein müsste, im Frühling hierher zu kommen, wenn alles grün war und die Vögel in den Baumkronen zwitscherten.
Ob sie im Frühling noch hier sein würde? Oder besser gesagt, würde Eduardo dann noch hier sein?
Von einer plötzlichen Angst ergriffen, blieb sie abrupt stehen. „Bitte sagen Sie mir, was mit Ihnen los ist“, platzte sie heraus, ehe sie es verhindern konnte. „Ich kann es einfach nicht ertragen, es nicht zu wissen.“
Eduardo stieß hörbar die Luft aus. „Liegt das an der Art und Weise, wie Sie Ihren Mann verloren haben? Falls dem so ist, kann ich Ihnen versichern, dass ich nicht an einer tödlichen Krankheit leide.“
„Aber was ist mit Ihrem Bein? Und warum sind Sie manchmal so weit weg, dass niemand Sie erreichen kann?“
Darauf schwieg er so lange, dass Marianne schon glaubte, er würde ihr nicht antworten. Doch dann sagte er: „Die erste Frage werde ich Ihnen beantworten, aber das andere geht nur mich etwas an.“
Während sie mit angehaltenem Atem darauf wartete, dass er fortfuhr, spürte Marianne, wie sich ihre Hände in den dicken Fäustlingen vor innerer Anspannung verkrampften.
„Ich war in einen Autounfall verwickelt … einen sehr schweren.“ Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet, seine Miene völlig unbewegt, bis auf einen kleinen Muskel, der an seiner Wange zuckte. „Dabei wurde mein Bein so stark verletzt, dass mehrere Operationen nötig waren, um es wieder zusammenzuflicken. Die Ärzte haben mir versichert, dass ich es eines Tages wieder uneingeschränkt benutzen kann. Aber von Zeit zu Zeit sind die Schmerzen noch unerträglich.“
„Das tut mir sehr leid.“
„Das muss es nicht.“ Als Eduardo den Kopf hob, um Marianne anzusehen, lag ein harter, unversöhnlicher Ausdruck in seinen Augen. „Es war meine eigene Schuld, und jetzt muss ich den Preis dafür bezahlen.“
Ungläubig erwiderte sie seinen Blick. „Soll das heißen, Sie glauben, dass Sie Ihre Schmerzen verdient haben?“
Er überging ihre Frage und sagte stattdessen mit mildem Spott: „Nachdem Sie nun wissen, dass ich nicht kurz davor bin, das Zeitliche zu segnen, schlage ich vor, dass wir uns wieder auf den Rückweg machen.“
„Eduardo …?“ Als ihr bewusst wurde, dass sie ihn zum ersten Mal beim Vornamen genannt hatte, errötete Marianne.
„Ja?“ In seiner Stimme schwang unüberhörbar ein ungeduldiger Unterton.
„Sie sollten nicht so erbarmungslos mit sich sein.“
Dass sie mit dieser Bemerkung eine unsichtbare Grenze überschritten hatte, kümmerte sie nicht. Denn sie spürte deutlich, dass er sich wieder an jenen weit entfernten Ort zurückgezogen hatte, zu dem er niemandem Zutritt gewährte, und wollte ihn unbedingt zurückholen.
„Sprechen Sie immer so unverblümt aus, was Sie denken?“ Zu Mariannes Überraschung lächelte Eduardo, worauf ihr Magen prompt einen kleinen Salto schlug.
„Nicht immer“, erwiderte sie. „Aber manchmal scheint es mir wichtiger zu sein, offen seine Gefühle auszudrücken als aus reiner Höflichkeit um den heißen Brei herumzureden.“
Eduardos Lächeln vertiefte sich. „Da haben Sie vermutlich recht.“ Er blickte kurz zum Himmel hinauf, an dem sich eine dunkle Wolkenbank gebildet hatte. „Ich denke trotzdem, wir sollten besser wieder umkehren, was meinen Sie?“
„Ja, ich bin schon ganz …“ Der Rest ihrer Antwort ging in einem spitzen Schrei unter, als sie auf einer vereisten Stelle ausrutschte und mit rasantem Schwung auf ihrem Hinterteil landete.
„Um Himmels Willen, Marianne! Haben Sie sich etwas getan?“
Vor Schreck war alles Blut aus Eduardos Gesicht gewichen. Er ließ seinen Stock fallen und streckte ihr beide Hände entgegen, um ihr wieder hoch zu helfen, doch sie blickte nur stumm zu ihm auf und biss sich auf die Lippen, als wollte sie einen Schluchzer unterdrücken.
„Sind Sie verletzt?“, stieß er panisch hervor, aber dann sah er, dass Marianne nicht gegen die Tränen, sondern gegen das Lachen ankämpfte. Schließlich konnte sie dem Drang nicht länger widerstehen. Sie lachte und lachte, bis sie kaum noch Luft bekam, während Eduardos schockierter Gesichtsausdruck allmählich einer verärgerten Miene wich.
„Würden Sie mir freundlicherweise verraten, was daran so lustig sein soll?“, erkundigte er sich steif, womit er jedoch
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