Julia Extra Band 0331
eindeutig im kreativen Bereich, aber allein mit Fantasie und Stilempfinden konnte sie weder die Miete bezahlen noch ihren Kühlschrank füllen.
Wenn ihr nur nicht so davor grauen würde, sich bei Ausstellungen, Vernissagen und anderen öffentlichen Anlässen zu zeigen, bei denen sie Bekanntschaften schließen und potenzielle Kunden kennenlernen könnte. Für so etwas brauchte man ein sicheres Auftreten und Selbstvertrauen, und genau das fehlte ihr.
Aber war das ein Wunder, wenn man bedachte, womit sie in den letzten Jahren fertig werden musste? Erst das Fiasko ihrer Ehe mit Rodrigo, dann der zermürbende Nervenkrieg mit Tim und schließlich der Verlust ihres Hauses und aller geliebten Erinnerungen. Jenny bezweifelte, dass es viele Menschen gab, die das alles unbeschadet weggesteckt hätten.
„Was schaust du dir eigentlich an?“
Sie war so tief in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht bemerkt hatte, dass Rodrigo zu ihr herübergekommen war. Der frische, salzige Meergeruch hing noch in seiner Kleidung, und sie bedauerte plötzlich, dass sie ihn nicht hatte begleiten können.
„Stolz und Vorurteil.“ Sie schluckte den Schmerz über das, was sie verloren hatte, hinunter und wandte sich wieder der Geschichte zu, die auf dem Bildschirm ihren Lauf nahm. Auch Lizzy Bennet standen noch viele Schwierigkeiten bevor, aber am Ende würde sie den Mann und das Haus ihrer Träume bekommen.
„Ich liebe Filme aus dieser Zeit“, sagte sie mit einem Hauch von Wehmut in der Stimme. „Die Kleider, die schöne Architektur, die unausgesprochene Leidenschaft hinter all der Höflichkeit und den eng geschnürten Korsetts …“
Bei ihren letzten Worten sah Rodrigo sie augenblicklich in einem jungfräulich weißen, viktorianischen Schnürmieder vor sich. „Und entspricht Mr Darcy deinem Bild von einem perfekten Mann?“, fragte er sie heiser.
Ihre kornblumenblauen Augen schauten für einen Moment verträumt zu ihm auf, bevor sie wieder zum Ball auf Netherfield zurückkehrten. „Nicht wirklich“, erwiderte sie nach einer Weile. „Letztendlich ist er nichts weiter als eine idealisierte Romanfigur. Würde man tatsächlich mit jemandem wie ihm leben, würde er sich wahrscheinlich als genau der Mann herausstellen, für den Lizzy ihn ursprünglich gehalten hat. Ein Egomane, der an sein gottgegebenes Recht glaubt, stets zu bekommen, was er will, einschließlich einer hingebungsvollen Ehefrau, die ihm sein überhöhtes Selbstbild bestätigt.“
Rodrigo war klar, dass Jenny keineswegs von dem fiktiven Mr Darcy sprach. „Tut mir leid, dass du so negative Erfahrungen mit mir gemacht hast“, murmelte er.
Sie zog sich die Decke bis zur Brust hoch, als würde sie frösteln. „Nicht nur mit dir“, stellte sie bitter fest. „Ich habe es dir nie erzählt, aber mein Bruder Tim war hochgradig süchtig, und wahrscheinlich ist er es noch. Marihuana, Kokain, Alkohol, Glücksspiel … das ganze Programm. Und als sein eigenes Geld nicht mehr reichte, um sein selbstzerstörerisches Leben zu finanzieren, hat er sich an mich gehalten. Nach unserer Scheidung wurde es besonders schlimm, weil er glaubte, ich wäre jetzt reich.“
„ Por dios , warum hast du mir das verschwiegen?“ Rodrigo war wie vor den Kopf geschlagen. „Ich hatte immer meine Vorbehalte gegen deinen Bruder, aber dass es so schlimm um ihn steht, haut mich jetzt doch um. Ich wünschte, du hättest mit mir darüber geredet, als wir noch zusammen waren.“
„Und was hätte das bringen sollen? Du hättest ihn auch nicht ändern können, und außerdem wollte ich seinen Kontakt zu dir so weit wie möglich unterbinden. Er hätte nur versucht, dich wie eine Weihnachtsgans auszunehmen, so wie er es mit mir gemacht hat. Dass ich seine Schwester bin, hat für ihn keine Rolle gespielt, und bei dir hätte er sich erst recht nicht zurückgehalten.“
„Was ist passiert, bevor er nach Schottland ging, Jenny? Ich will es wissen.“
Unter Rodrigos eindringlichem Blick fühlte sie sich wie ein in die Enge getriebenes Tier. Um seinen schockierten Gesichtsausdruck nicht länger sehen zu müssen, zog sie die Knie bis an die Brust, presste ihre Stirn darauf und verharrte eine Weile reglos in dieser Haltung.
Als Rodrigo schon nicht mehr mit einer Antwort auf seine Frage rechnete, hob Jenny den Kopf und sah ihm offen in die Augen. „Er hat mit allen Mitteln versucht, mir das Haus abzujagen“, eröffnete sie ihm. „Zuerst versuchte er es auf die sanfte Tour, dann hat er mich wie
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