Julia Extra Band 0331
Rodrigo war sicher, dass jetzt alles nach seinen Wünschen ablaufen würde.
Seufzend erhob er sich von dem zierlichen Biedermeierstuhl, der zwar perfekt zu dem antiken Schreibtisch passte, aber für einen Mann seiner Größe nicht gerade bequem war. Er ließ einige Male die Schultern kreisen, um die verspannten Muskeln zu lockern, und trat ans Fenster.
Der offene Blick auf den Atlantik war einfach sensationell. Schaumgekrönte Wellen brachen sich am Strand und liefen auf dem goldfarbenen Sand aus. Am winterblauen Himmel kreisten Möwen, und plötzlich verspürte Rodrigo den Drang, sich die salzige Seeluft um die Nase wehen zu lassen.
Nachdem er einen Blick ins Wohnzimmer geworfen und festgestellt hatte, dass Jenny auf dem Sofa eingeschlafen war, zog er seine Lederjacke an, schlang sich seinen burgunderroten Kaschmirschal um den Hals und machte sich auf den Weg.
Nach gut zehn Minuten Fußweg hatte er den Strand erreicht. Sie ist definitiv über das Schlimmste hinweg, sagte er sich, während er mit strammem Schritt durch den Sand marschierte und die belebende Brise ihm ins Gesicht blies. Am Montag würde er abreisen und wieder sein gewohntes Tagewerk aufnehmen. Jenny würde nicht länger seine Hilfe benötigen, und so konnte die Arbeit wieder den ersten Platz in seinem Leben einnehmen.
Ein Teil von ihm war von dieser Aussicht ganz und gar nicht angetan. Doch so sehr dieser Teil auch darauf drängte, sein Verlangen nach der ehemaligen Mrs Martinez zu befriedigen, behielt Rodrigos rationale Seite die Oberhand. Zwar hatte er Jenny in einem schwachen Moment prophezeit, dass sie wieder miteinander schlafen würden, aber je länger er darüber nachdachte, umso weniger klug erschien ihm diese Idee.
Jenny hatte immer noch Träume. Träume, die er ihr nicht erfüllen konnte. Wenn er sich jetzt wieder mit ihr einließ, nur um sie nach einem heißen Wochenende wieder zu verlassen, würde er sie nur in ihrer Überzeugung bestärken, dass er ein skrupelloses Charakterschwein war.
Nein, es ging einfach nicht!
Er würde jeden weiteren Gedanken an Sex mit ihr aus seinen Gedanken verbannen. Stattdessen würde er Teresa anrufen, sobald er wieder in London war. Die spanische Schauspielerin, mit der er sich vor einem Jahr ab und zu getroffen hatte, war eine echte Granate im Bett. Sie kannte alle Tricks, um einen hart arbeitenden Mann auf andere Gedanken zu bringen und war ebenso wenig wie er an einer festen Bindung interessiert.
Dummerweise erregte ihn diese Aussicht kein bisschen. Ja, der Gedanke an eine Nacht mit der vollbusigen, lasziven Partyschönheit stieß ihn geradezu ab, wenn er ihre allzu offensichtlichen Reize mit denen der warmherzigen, bezaubernden Jenny verglich.
Er murmelte etwas Unverständliches auf Spanisch und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. Den Kopf tief gesenkt, um sich gegen den scharfen Wind zu schützen, ging er mit ausgreifenden Schritten zum Cottage zurück.
Als Rodrigo das Wohnzimmer betrat, blickte Jenny, die sich gerade einen Film ansah, flüchtig zu ihm auf. „Wo warst du? Ich habe geschlafen, und als ich wach wurde, habe ich sofort gemerkt, dass du nicht im Haus bist.“
„Ich habe einen Strandspaziergang gemacht“, informierte er sie. „Hast du mich vermisst, Jenny Wren?“
„Absolut nicht“, erwiderte sie, ohne den Blick vom Fernseher zu lösen. „Ich hätte es nur merkwürdig gefunden, wenn du abgereist wärst, ohne dich zu verabschieden.“
„Du würdest mir zutrauen, dass ich abreise, ohne meine Rechnung zu bezahlen?“
Jenny stieß entnervt die Luft aus, aber wenigstens hatte er jetzt ihre volle Aufmerksamkeit. „Fang bitte nicht wieder damit an, Rodrigo. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich dir für deinen pausenlosen Einsatz hier auch noch Geld abknöpfe.“
Er fuhr sich mit beiden Händen durch das windzerzauste Haar. „Dafür nicht, aber für die Unterkunft und das Essen. Immerhin betreibt deine Freundin hier eine Pension und keinen Wohltätigkeitsverein.“
Diesem Argument konnte Jenny leider nichts entgegensetzen. Wenn sie ihr eigenes kleines Unternehmen vor sich hin dümpeln ließ, war das ihre Sache, aber Raven Cottage war Lilys Existenzgrundlage. Offenbar fehlte ihr wirklich jedes Talent zur Geschäftsfrau.
Aber was nicht ist, kann ja noch werden, versuchte sie sich zu trösten. Sobald sie wieder in London war, würde sie sich in die Arbeit stürzen und zumindest versuchen, ein wenig mehr Initiative an den Tag zu legen. Ihre Begabungen lagen zwar
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