Julia Extra Band 0332
letzten Stunden so tapfer unterdrückt hatte, holte ihn wieder ein.
Maya ging den oberen Flur entlang. Hier war es so still, als sei alles mit einer dicken Watteschicht bedeckt. Als sie vor der kunstvoll geschnitzten Bibliothekstür stand, jagte ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Wie am vergangenen Tag auf dem alten römischen Wall, so vermeinte sie auch hier, übersinnliche Erscheinungen wahrzunehmen. Hier allerdings nicht als marschierende Legionäre, sondern als Verstorbene einer Familie, die in diesem Haus gelebt hatten.
Sie fragte sich, weshalb Brad kaum über seine Eltern sprach. Immerhin hatte er vor dem Internat hier bei ihnen gelebt und das Haus von ihnen übernommen. Gab es einen dunklen Fleck in der Familiengeschichte? Sein Vater war ein sehr unbeherrschter Mensch gewesen, das hatte Brad bereits erwähnt. War das der Grund, weshalb er über seine Kindheit schwieg?
Maya brauchte ihre ganze Kraft, um die schwere Eichentür zu öffnen. Der kühle, hohe Raum war noch originalgetreu im jakobinischen Stil des 17. Jahrhunderts eingerichtet. Schwere, dunkle Eichenregale reichten vom Fußboden bis unter die Decke und waren dicht an dicht mit Büchern gefüllt. Moderne Gemälde, die einen reizvollen Kontrast zu der antiken Einrichtung bildeten, hingen an den wenigen freien Flächen.
In der Mitte der Längswand befand sich ein wunderschöner offener Kamin mit Einlegearbeiten aus Marmor. Über dem Sims hing ein außergewöhnliches Porträt eines dunkelhaarigen jungen Mannes. Maya trat näher, um es sich genauer anzusehen und hielt vor Überraschung den Atem an. In der linken unteren Ecke prangte deutlich der Name des Künstlers: Alistair Devereaux.
Wie kam Brad an ein Bild ihres Vaters? Wieso hatte er ihr nichts davon erzählt? Sie betrachtete die auffälligen Farben, den kühnen Pinselstrich, und die Erinnerungen an ihren Vater kehrten zurück. Sie hatte ihn so geliebt, trotzdem hatte er sie vernachlässigt und schließlich im Stich gelassen. Wütend wischte sie sich die Tränen ab. Würde Brad sich ähnlich verhalten?
Sie musste auf der Hut sein, durfte keine zu große Nähe zulassen, wenn sie nicht zum zweiten Mal die gleiche bittere Erfahrung machen wollte. Auch Brad war Künstler, war Liebling der Medien und des Theaterpublikums. Und darüber hinaus, das wusste sie jetzt, scheute er sich davor, eine ernsthafte Beziehung einzugehen.
Sie war schon viel zu weit gegangen. Sich von einem Mann wie ihm das Herz stehlen zu lassen, war reine Dummheit gewesen – egal, wie charmant, attraktiv, begabt oder gut im Bett Brad auch sein mochte.
Eine Affäre durfte sie sich gönnen, auf mehr zu hoffen wäre töricht. Wollte sie ihr Selbstwertgefühl nicht verlieren, musste sie den Tatsachen ins Auge sehen.
Brad trank einen Schluck von seinem Chardonnay und setzte das Glas bedächtig zurück auf den Tisch. Das Essen hatte geschmeckt, und mit dem, was er heute geschrieben und geschafft hatte, war er mehr als zufrieden. Er betrachtete Mayas Gesicht im Kerzenlicht und bewunderte wieder einmal ihre fast überirdische Schönheit.
„Übrigens wollte ich dir ein Auto zur Verfügung stellen. Ich dachte an dein Lieblingsauto, einen MG. Was hältst du davon?“
Sorgfältig tupfte sich Maya mit der weißen Leinenserviette die Lippen ab. Sie trug ein langes Kleid mit einem elegant schwingenden Rock. Das ausdrucksstarke Muster in verschiedenen Grüntönen und der Glanz des Satins brachten ihre smaragdfarbenen Augen noch mehr zum Leuchten.
„Die Vorstellung ist verlockend. Handelt es sich etwa um den Wagen, in dem du mich nach Camden gebracht hast? Ich dachte, du hütest ihn wie deinen Augapfel.“
„Ich halte dich für eine vernünftige Fahrerin, die ihn nicht sofort gegen die nächste Wand setzt.“ Er zuckte die Schultern. „Und wenn, ich würde es überleben, ein Auto ist schließlich nur ein Auto.“
„Meinem Vater lagen seine Autos sehr am Herzen. Hätte jemand eines beschädigt, hätte er das niemals verziehen.“
„Lagst du ihm auch so am Herzen?“
„Die Frage kannst du dir selbst beantworten.“ Herausfordernd sah sie ihn an. „Aber jetzt möchte ich dir eine Frage stellen, mit der ich überfordert bin. Warum hast du mir verschwiegen, dass du ein Bild meines Vaters besitzt – das Porträt über dem Kamin in der Bibliothek. Oder hängen in Hawks Lair sogar noch andere seiner Werke?“
„Nein, ich habe nur das eine von meinem Vater geerbt. Es handelt sich um das Porträt eines begabten jungen Kollegen,
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