Julia Extra Band 0339
ohne Angst entgegenzutreten.“
Bestürzt nahm Nate zur Kenntnis, wie sehr ihm ihre fast greifbare Einsamkeit unter die Haut ging. „Es wundert mich, dass du all das nicht bekommen hast, obwohl du es doch so sehr wolltest“, sagte er schroffer, als nötig gewesen wäre.
Morgan wich seinem Blick aus und versenkte sich in die Betrachtung eines Tannenbaum-Kekses, der eher an eine Krüppelkiefer erinnerte. „Ich denke, es liegt daran, dass ich es zu sehr wollte“, meinte sie nachdenklich. „In jeder Beziehung, die ich bisher hatte, habe ich versucht, meine Bilderbuchvorstellung von einer Familie zu verwirklichen, aber das hat natürlich nie geklappt. Irgendwann habe ich dann beschlossen, dass meine Schüler meine Familie sind.“
Nate kannte sich weder mit Bilderbuchfamilien aus, noch besaß er die Macht, Morgans Leben zum Guten zu wenden. Aber sie für einige Stunden aufzuheitern, traute er sich durchaus zu.
„Von diesen Keksen habe ich irgendwie Hunger bekommen“, stellte er fest. „Wollen wir nicht zum Chinesen gehen und etwas Richtiges essen?“
Eine Frau in Jing Mei’s Jadepalast einzuladen galt in Canterbury als eindeutiger Hinweis auf eine sich anbahnende Beziehung. Es war jedoch höchst unwahrscheinlich, dass Morgan das wusste.
Sie lächelte ihn an, und er badete im Glanz dieses Lächelns. „Ja“, antwortete sie in einem so feierlichen Tonfall, als hätte sich gerade etwas zwischen ihnen geregelt.
Möglicherweise wusste sie ja doch, was der Besuch eines chinesischen Restaurants in einer Kleinstadt bedeutete.
Während der hektischen Tage, die auf diesen Abend folgten, kam Nate zu dem Schluss, dass sich zwischen ihnen tatsächlich etwas geregelt hatte. Der Krieger in ihm, der fest entschlossen gewesen war, mit allen Mitteln gegen Morgan McGuires Anziehungskraft anzukämpfen, hatte die Waffen niedergelegt.
Wegen Wesley Wellhavens bevorstehender Ankunft fanden die Proben jetzt häufiger statt, und da Mrs Wellhaven noch immer keine Zuschauer duldete, nutzten Nate und Morgan diese Termine immer häufiger, um sich klammheimlich davonzumachen.
Natürlich waren es keine richtigen Dates.
Zumindest versuchte Nate, sich das einzureden, und oft waren ihre Zusammenkünfte wirklich nicht mehr als ein paar gestohlene Momente, die sie einem vollen Terminkalender abgerungen hatten. Ein Spaziergang um den Schulblock. Eine Tasse Kaffee in der Cafeteria. Ein gemeinsam gelöstes Kreuzworträtsel und ein Stück Kuchen im Café Bücherwurm am Ende der Straße. Manchmal saßen sie auch nur bei angestellter Heizung in seinem Wagen und unterhielten sich oder lasen Zeitung.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der Nate diese ewige Warterei auf Ace rasend gemacht hätte. Jetzt freute er sich auf jede Minute, die er mit der Lehrerin seiner Tochter verbringen konnte. In ihrer Gesellschaft schien er die Stadt, in der er geboren wurde und die er nie verlassen hatte, völlig neu zu entdecken. Er hatte nie die Kutschfahrt durch Canterbury mitgemacht, die der alte Pete Smith seit Menschengedenken in den drei Wochen vor Weihnachten anbot. Jetzt tat er es. Er ließ sich von Morgan durch das unbekannte Land der Antiquitätengeschäfte, Buchläden und Kunstgalerien führen und betrat an ihrer Seite zum ersten Mal das Museum.
Morgans Fähigkeit zu staunen und ihr Talent, selbst den alltäglichsten Dingen den Reiz des Neuen abzugewinnen, machten sie zu einer außergewöhnlichen Lehrerin, die zu Recht von ihren Schülern angebetet wurde. Und ebenso wie ihnen gab sie auch Nate das Gefühl, dass allem, was ihn umgab, ein faszinierendes Geheimnis innewohnte, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Je mehr Zeit sie miteinander verbrachten, umso vertrauter wurde ihr Umgang miteinander. Beim Spazierengehen hielten sie Händchen, und sie küssten einander auch hin und wieder. Anfangs nur kurz und eher beiläufig, doch mit der Zeit immer länger und intensiver. Überhaupt begann Nate, in Morgans Nähe Empfindungen zu entwickeln, die ihm bisher unbekannt gewesen waren. Natürlich hätte er nie behauptet, dass sie eine bessere Beziehung hatten als die, die er mit seiner Frau geführt hatte. Es war einfach nur anders.
Er und Cindy waren zusammen groß geworden. Er hatte sie geliebt, so wie er auch David geliebt hatte, und als die Zeit gekommen war, hatte er das Versprechen, das er David gegeben hatte, mit Freuden erfüllt. Aber wenn er mit Morgan zusammen war, kamen Nate immer häufiger Cindys Worte in den Sinn.
Ich wünschte, du wüsstest,
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