Julia Extra Band 0339
können, sagte er sich auf dem Weg zu Morgans Haustür.
Aber er hatte es nicht getan, sondern stattdessen das Licht gewählt. Und genau das sah er in ihrem Gesicht, als sie ihm die Tür aufmachte.
Nate ging darauf zu wie ein Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrt und von den hell erleuchteten Fenstern seines lang vermissten Heims begrüßt wird.
Zwei Stunden später fragte er sich, ob Morgans Küche je wieder so aussehen würde wie vor seiner Ankunft. In der Spüle stapelten sich Rührschüsseln, Messbecher und verklebte Ausstechformen, die Arbeitsplatte war mit einer undurchdringlichen Schicht aus verstreutem Mehl und roter Speisefarbe überzogen, und aller Wahrscheinlichkeit nach befand sich mehr Zuckerguss auf dem Fußboden als auf den Keksen, die noch dazu ein einziges Fiasko waren.
An Morgan lag es nicht. Mit bewundernswerter Geduld hatte sie Nate jeden einzelnen Arbeitsschritt klar und anschaulich erklärt. Dennoch waren die Kekse grottenhässlich geworden. Sie hatten aussehen sollen wie Christbaumschmuck, aber das taten sie nicht.
Nate nahm einen davon vom Blech und betrachtete ihn stirnrunzelnd. „Wie sieht er für dich aus?“, fragte er Morgan, die den Keks daraufhin ebenfalls eingehend studierte.
„Wie ein Eiszapfen?“, schlug sie vor.
„Also ich finde, er hat etwas entschieden Obszönes.“ Er biss die Spitze ab und genoss es, sie rot werden zu sehen. „Aber der Geschmack ist nicht übel.“
Sie stemmte die Hände in die Hüften und war ganz Miss McGuire. Als würde die Erinnerung an ihren Kuss die Luft zwischen ihnen nicht zum Knistern bringen. Als würde ihr Gesicht nicht wie Feuer brennen. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du einfach unverbesserlich bist, Nate Hathoway?“
„Sicher.“ Er schnappte sich einen Weihnachtsmann und trennte mit einem gezielten Biss den Kopf von dem missglückten Rumpf. „Es liegt in der Natur der Hathoways, unverbesserlich zu sein.“
„Wirklich?“ Morgan ließ den Blick über das Backblech schweifen und erkannte, dass keiner dieser Kekse je auch nur in die Nähe der Wellhaven-Willkommensparty gelangen würde. Also bediente sie sich ebenfalls. „Erzähl mir davon, wie es ist, als Hathoway aufzuwachsen.“
Zu seiner eigenen Verwunderung tat Nate es. Mitten in Morgans verwüsteter Küche, eingehüllt vom Duft frisch gebackener Kekse und einem wohligen Zuhause-Gefühl, berichtete er ihr, wie es war, als armer Junge in einer Kleinstadt aufzuwachsen.
„Aber trotz allem hatten wir ein gutes Leben“, betonte er nachdrücklich, um von vornherein jede Mitleidsbekundung auszuschließen. „Materiell hatte mein Vater uns so gut wie nichts zu bieten, aber seine Familie bedeutete ihm alles. Er hätte sich ohne nachzudenken vor eine Horde hungriger Löwen gestellt, um uns zu beschützen.“
Und dann erfuhr Morgan, wie er als Kind seine Freizeit verbracht hatte. Er erzählte ihr von Sommernachmittagen am Wasserloch und Schlittschuhrennen auf dem zugefrorenen Mühlteich. Von Rodelpartien auf einem selbstgezimmerten Schlitten, wilden Schneeballschlachten und Spieleabenden in der Küche.
„So wie neulich bei Molly und Keith.“ Bei der Erinnerung musste Morgan unwillkürlich lächeln.
„Ja …“ Und jede dieser Erinnerungen schloss Cindy und David mit ein. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass Nate den Reichtum dieser Freundschaft stärker empfand als den des Schmerzes über ihren Verlust.
„Jetzt bist du an der Reihe“, forderte er Morgan auf. „Wie bist du aufgewachsen?“
Und dann erzählte Morgan ihm von ihrer zerrissenen Familie. Davon, wie sie schon als kleines Mädchen die Spannungen zwischen ihren Eltern gespürt und sich für den Zusammenhalt von etwas verantwortlich gefühlt hatte, das schon lange nicht mehr zu retten war.
„Es war, als hätte ich versucht, eine bereits losgetretene Lawine aufzuhalten. Als ich elf war, ließen mein Vater und meine Mutter sich dann endlich scheiden. Ich habe es als Erleichterung empfunden, aber es ließ mich auch Dinge wünschen, die ich nicht haben konnte …“
„Was für Dinge?“, hakte Nate nach, als sie nichts mehr sagte.
Sie lächelte wieder, aber dieses Mal wirkte es eher traurig. „Ich habe immer andere Familien beobachtet. In der Nachbarschaft oder im Fernsehen, und dann habe ich mir gewünscht, mit Menschen zusammen zu sein, die mich auf eine ganz besondere Weise lieben. Auf eine Weise, die einerseits den Rest der Welt ausschließt und mir andererseits das Selbstvertrauen gibt, ihr
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