Julia Extra Band 0339
kürzester Zeit ins Herz geschlossen und liebte ihn über alles – den armen mutterlosen Kleinen. Was, um alles in der Welt, hatte sie vor zwei Jahren nur getan? Warum hatte sie ihn alleingelassen?
Sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, sie konnte sich einfach nicht erinnern. Als sie den Psychologen gefragt hatte, ob ihr irgendwann alles wieder einfallen würde, hatte seine Antwort gelautet, das sei möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Eine Stunde später brachte der Wächter ihr das Essen, das Isabella allein einnahm. Danach ging sie mit ihrem Kaffee auf den Balkon, von dem aus man auf die Gartenanlagen blicken konnte. Die Sonne war untergegangen, und die Hitze wich langsam aus der Luft. Der Himmel war rot angehaucht – wie auf Hawaii und doch ganz anders – und tauchte das Arabische Meer in dunkles Violett.
Port Jahfar glitzerte und funkelte in der Dunkelheit wie ein Edelstein. Lastschiffe fuhren in einiger Entfernung in den Hafen ein und brachten Lieferungen oder transportieren Ladungen in andere Häfen. Isabellas Vater besaß ein Haus an der Küste, weit weg, wo das türkisfarbene Wasser auf den blendend weißen Strand lief. In ihrer Jugend hatte sie dieses von allen Häusern am liebsten gemocht. Genau aus diesem Grund hatte es sie auch nach Hawaii gezogen.
Während Isabella ihren Kaffee trank, brach die Nacht herein, und das Rot des Himmels verblasste in der Dunkelheit. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht mehr allein war. Ohne sich umzudrehen, wusste sie, wer da gekommen war.
„Willst du mich vom Balkon schubsen, damit der Ärger ein Ende hat, Adan?“
Sie hörte, wie er ausatmete. „Nein.“
Dann stand er neben ihr, in Jeans und einem dunklen Polohemd. Weil er keine Kufiya trug und Haar und Kopfform zu sehen waren, wurden seine markanten Züge noch stärker betont.
Wie konnte man einen Mann wie ihn vergessen? Vergessen, dass sie mit ihm geschlafen und gegessen hatte, mit ihm aufgewacht war und mit ihm geredet hatte?
„Er hat über eine Stunde lang geweint“, sagte Adan ohne Überleitung. Die tiefe Liebe zu seinem Sohn war ihm deutlich anzumerken.
„Das tut mir leid“, erwiderte Isabella leise. Beim Gedanken daran, wie traurig Rafik gewesen war, zog sich ihr die Kehle zusammen.
„Er wollte nicht einmal etwas essen. Erst nach einer Weile konnte Kalila ihn so weit beruhigen, dass er eingeschlafen ist.“
Adan wandte sich zu ihr um und stützte die Ellenbogen aufs Geländer – eine lässige Bewegung, doch sein Körper und sein eindringlicher Blick drückten Anspannung aus. „Ein Kind aufzuziehen ist nicht einfach. Kinder sind eigensinnig, ungestüm, unabhängig und noch so vieles mehr, das man von so einem winzigen Menschen nicht erwartet. Es ist eine riesige Verantwortung.“
„Das weiß ich, Adan.“ Isabellas Herz schlug heftig, weil er ihr so nahe war. Wenigstens einen kurzen Moment lang schienen sie beide auf derselben Seite zu stehen: Eltern, die über ihr gemeinsames Kind sprachen. Doch natürlich war es ganz anders.
Als er sich durchs Haar strich, hätte sie ihm am liebsten die dunklen Locken gestreichelt, hielt sich jedoch zurück.
„Er kennt dich nicht“, warnte Adan sie. „Wenn du dich jetzt in sein Leben drängst, um dann festzustellen, dass du mit der Verantwortung nicht umgehen kannst, wirst du ihm sehr wehtun.“
Isabella verkrampfte die Finger um ihre Kaffeetasse. „Ich habe doch nicht mit Absicht …“
„Ich weiß.“ Wieder atmete Adan hörbar aus. „Kalila hat es mir erzählt. Sie war auf dem Rückweg zum Kinderzimmer, als Rafik dich singen hörte.“
„Wenn du mich nicht zurechtweisen willst, warum bist du dann hier? Ich weiß doch, dass du zufriedener wärst, wenn es mich nicht gäbe. Aber es gibt mich nun einmal. Und ich möchte mein Kind richtig kennenlernen.“
Adans Augen funkelten, und er presste den Mund zusammen. Unwillkürlich ließ Isabella den Blick zu seinen sinnlichen Lippen wandern, mit denen er sie so perfekt geküsst hatte. Das Verlangen, das sie erfüllte, war so heftig, dass Isabella erschrak: Obwohl sie wütend auf Adan war, ließ Begehren ihren ganzen Körper vibrieren.
Adan kam einen Schritt auf sie zu und blieb dann abrupt stehen. Leise und nachdrücklich sagte er: „Ich bin hier, weil ich eine Entscheidung gefällt habe.“
6. KAPITEL
Adan war sich bewusst, dass er ein Risiko einging, doch er hielt dies für die einzige Lösung. Als sich der weinende Rafik nicht hatte beruhigen lassen, war Adan klar geworden, dass er das
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