Julia Extra Band 0339
War es so? Sie hatte den ersten Schock überwunden, und nichts wäre ihr lieber, als an seine Unschuld zu glauben. Nur sprach eben so viel dagegen …
Sie warf einen Blick auf die zwei Männer, die jetzt, mit Farbtopf und Pinsel bewaffnet, das Gerüst bestiegen. „Ihre Arbeiter haben offenbar alles unter Kontrolle. Möchten Sie auf einen Kaffee heraufkommen?“
Überrascht hob er die Brauen. „Sie laden mich zum Kaffee ein?“
Mary bückte sich nach der Reisetasche. „Wie heißt es doch gleich? Freunde soll man sich nahe, Feinde noch näher halten.“
„Ich bin nicht Ihr Feind, Mary.“
„Das sollte ein Witz sein, Jonas.“
„Den ich überhaupt nicht komisch finde“, antwortete er, während er nach ihr die Treppe hinaufstieg.
In der Wohnung stellte Mary die Reisetasche achtlos zu Boden und ging in die Küchenecke, um Kaffee zu kochen. Jonas zog die Tür hinter sich zu, dann blieb er stehen und schaute sich um. Und was er sah, raubte ihm den Atem.
Marys Wohnung bestand aus einem einzigen Raum, der die ganze Fläche des Lagerhauses einnahm. Eine Frühstücksbar trennte die Küchenecke ab, und schräg gegenüber stand das Bett auf einer erhöhten Plattform, die drei hölzerne Stufen hatte. Was ihm jedoch die Sprache verschlug, war das Dekor.
Die Decke leuchtete tiefblau wie der Nachthimmel, mit Sternen und einer Mondsichel. Die Wände waren eine Nachbildung der vier Jahreszeiten – der Frühling eine Explosion leuchtend gelber Blumen und zartgrünem Blattwerk, der Sommer ein Blütenmeer in allen Farben des Regenbogens. Goldtöne in den verschiedensten Schattierungen, von Hellgelb bis Rostbraun, illustrierten den Herbst, und eine herrliche Schneelandschaft symbolisierte den Winter.
Die gleichen Töne wiederholten sich in Mobiliar und Zubehör – ein goldfarbener Sessel, ein zweiter in Ziegelrot, das Sofa in einem bräunlichen Orange. Mehrere weiße und beige Teppiche bedeckten den größten Teil des Parkettfußbodens. Auf dem Bett lag eine bunte Flickendecke, und der Flachbildfernseher, den sie erwähnt hatte, stand unauffällig in einer Ecke. Von dort führte eine Wendeltreppe in den zweiten Stock, vermutlich zu ihrem Atelier.
Und vor dem Panoramafenster, sozusagen am Ehrenplatz, erhob sich der Weihnachtsbaum – eine echte Tanne, die fast bis zur Decke reichte. Die Zweige waren mit unzähligen Kugeln, Kerzen und kleinen Objekten so dicht dekoriert, dass man die Nadeln kaum sah.
In seinem ganzen Leben hatte Jonas kein schöneres und originelleres Interieur gesehen. Es passt zur Besitzerin, dachte er.
„Ist was, Jonas?“
Bei Marys Worten zuckte er zusammen, so versunken war er in seine Betrachtung. „Ja … nein …“ Er holte tief Luft. „Ihre Wohnung ist … Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …“
„Seltsam?“ Mit zwei dampfenden Bechern kam sie hinter der Frühstücksbar hervor. „Unheimlich? Ein Albtraum?“ Sie lachte.
„Fantastisch ist wohl eine passendere Beschreibung, und das meine ich im wahrsten Sinn des Wortes. Kein Wunder, dass Ihnen mein Wohnzimmer nicht gefallen hat.“
Sie stellte den Kaffee auf einen Bambustisch, dann kauerte sie sich mit angezogenen Beinen aufs Sofa. „Rustikal ist mir lieber, das gebe ich zu.“ Sie schmunzelte und trank einen Schluck Kaffee.
Jonas setzte sich in den rostroten Sessel gegenüber und griff nach seinem Becher. „Ist Ihr Atelier ebenso originell?“
„Wenn Sie möchten, können Sie es sich ansehen.“
Das leichte Zögern in ihrer Stimme entging ihm nicht. „Aber besonders gern zeigen Sie es nicht vor, habe ich recht?“
Mary verzog das Gesicht. „Nein.“ Und doch hatte sie Jonas dazu aufgefordert, ausgerechnet ihn … „Vielleicht später, nach dem Kaffee.“
Eine Weile schwiegen sie. Insgeheim fragte sie sich, weshalb sie ihn überhaupt heraufgebeten hatte. Wahrscheinlich weil sie an der Richtigkeit ihrer Anschuldigungen zweifelte.
Jetzt, da er ihr gegenübersaß, spürte sie wieder diese seltsame Spannung, die offenbar nach wie vor zwischen ihnen existierte.
Warum hatte er nur so viel Sex-Appeal? Lag es an dem athletischen Körper? Dem dichten, etwas zu langen Haar? Dem markanten Gesicht? Er erinnerte sie an die Skulptur eines Engels, die sie irgendwo gesehen hatte …
Abrupt wechselte sie das Thema. „Sie haben mir immer noch nicht gesagt, ob Sie den Vorfall der Polizei gemeldet haben oder nicht.“
Seine Züge verhärteten sich. „Doch, das habe ich. Zwei Polizisten kamen, um sich die Sache anzusehen. Sie
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