Julia Extra Band 0342
darüber sein, dass Molly die Bremse gezogen hatte, bevor er sie küssen und ihre bisher nicht vorhandene Beziehung auf ein sehr beziehungsähnliches Terrain manövrieren konnte. Aber warum lag ihm die Enttäuschung dann wie ein Stein im Magen?
„Na, wie gefallen euch meine neuen Babys?“, sagte Harry, während er auf die beiden zukam. Seine dicken weißen Haare standen kerzengerade zu Berge, und seine dunkelblauen Augen flackerten vor Begeisterung – für sein Aquarium und für seine Gäste.
„Sind sie nicht prächtig? Ich denke darüber nach, im Herbst noch ein paar Hammerhaie dazuzukaufen. Und um sie herum eine ganze Werkzeugausstellung aufzubauen.“
„Ich finde dein Aquarium ganz toll, Harry“, sagte Molly, sichtlich dankbar für diese Unterbrechung. „Es macht echt Spaß. Ein toller Ort, um seine Kinder herzubringen – hier wimmelt es nur vor kinderfreundlichen Dingen.“
Er tippte dankend an einen imaginären Hut.
„Danke schön, Miss. Es liegt ganz in meinem Bestreben, diesen Ort und meine kleinen Gäste wie meine Familie zu behandeln. Zu meinem Bedauern hatte ich nie eigene Kinder.“
Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht.
„Das war einer der größten Fehler in meinem Leben: zu spät zu heiraten, zu beschäftigt zu sein, um eine Familie zu gründen. Allerdings durfte ich die Gesellschaft dieses Typen da genießen. Und die seines Bruders.“
Harry grinste Linc an. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie du deinen ersten Chemiebaukasten bekommen hast. Warst verdammt knapp davor, das ganze Viertel in die Luft zu jagen.“
„Du hast ihn mir zum Geburtstag gekauft, wenn ich mich recht erinnere. Du hast mich also dazu angestiftet!“
Harry schmunzelte.
Molly hob eine Augenbraue. „So etwas hat Linc getan?“
„Oh ja, mit ein wenig Hilfe von Marcus, wie ich vermute. Wann immer diese beiden Jungs zusammengesteckt haben, war der Ärger vorprogrammiert. Linc, nehme ich an, war schon immer der Strippenzieher.“ Harry zwinkerte. „Als Kinder habt ihr uns alle immer wieder zum Lachen gebracht. Das war eine schöne Zeit.“
„Nun ja, das ist Vergangenheit“, entgegnete Linc. „Inzwischen bin ich zu alt für Chemiebaukästen.“
Harrys Gesicht wurde weicher und er legte eine Hand auf Lincs Schulter.
„Ich vermiss deine Eltern auch, Linc. Sie wären stolz, könnten sie dich heute sehen.“
Linc fragte sich, ob Harry dasselbe gesagt hätte, würde er die ganz Geschichte um Marcus’ Tod kennen. Wie Linc seinen Bruder in letzter Minute im Stich gelassen hatte. Dass er nicht der behütende ältere Bruder gewesen war, wie er es versprochen hatte.
Im Augenblick wollte Linc nur noch hier weg, um sich nicht mit Erinnerungen quälen zu müssen.
„Ja, ähm, danke, Harry. Und danke, dass du uns heute reingelassen hast. Ich komme wieder, um mir die Hammerhaie anzusehen, versprochen.“
„Ich nehme dich beim Wort. Ich vermisse deine Gesellschaft. Und bring deine hübsche Lady mit“, sagte Harry und lächelte Molly an. „Und wenn du schlau bist, mein Freund, bringst du dein eigenes Leben in Gang, bevor es zu spät ist.“
„Danke für den Rat, aber ich habe eine Firma, die ich führen muss.“
Linc klopfte Harry auf die Schulter.
„Die Firma läuft von selbst …“
„Und mein Leben nicht, ich weiß.“
Harry schüttelte seinen Kopf, murmelte etwas über Lincs Sturheit, dann verabschiedete er sich von den beiden.
Erneut drückte Linc sanft seine Hand auf Mollys Rücken, als sie das Gebäude verließen. Doch dieses Mal blieb sie unter seiner Berührung seltsam steif und unnahbar. So als sei sie ihm böse.
Weil er versucht hatte, sie zu küssen? Wegen etwas, das er gesagt hatte?
Als sie draußen waren, winkte er ein Taxi herbei.
Kaum saßen sie im engen Wageninneren, wandte sich Linc an Molly.
„Hör mal, das, was da vorhin passiert ist …“
„Mach dir darüber keine Gedanken“, unterbrach sie ihn. „Keiner von uns beiden will einen weiteren Fehler begehen.“
Sah sie diese Nacht wirklich so? Als einen Fehler?
Das Taxi kurvte durch die Straßen von Las Vegas, die nachts noch genauso belebt waren wie tagsüber. Aber Lincs Gedanken beschäftigten sich nicht mit den hell erleuchteten Geschäften oder den Hundertschaften, die in und aus den Kasinos und Restaurants strömten.
Er war in seinen Erinnerungen um Marcus gefangen. Er erlebte gedanklich wieder den Tag, an dem er Marcus’ Frau hatte gegenübertreten müssen, um ihr zu sagen, dass der Mann, den sie
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