Julia Extra Band 0347
schon zwei Monate hier lebte, fühlte sich Grace immer noch ein wenig wie in einem Hotel. Zu groß. Zu elegant. Zu perfekt. Es war das Haus, von dem sie immer geträumt hatte, doch es war nicht ihr Zuhause.
Vielleicht hatte es mehr mit ihrem Seelenzustand zu tun – dem Zustand ihres Herzens, um genau zu sein – als mit dem Haus selbst. Die erste Wohnung, die sie mit Rob geteilt hatte, war zwar nur eine kleine einfache Armeeunterkunft gewesen, doch sie war mit Lachen und Leidenschaft erfüllt gewesen. Grace erinnerte sich gerne an diese schöne Zeit zurück.
Vielleicht fühlte sich Noahs Zuhause deshalb wie ein Musterhaus an. Ihre Ehe war zwar legal, doch war sie längst nicht so real wie die mit Rob damals. Noah konnte sie dafür nicht verantwortlich machen. Er gab ihr genau das, was er versprochen hatte – Respekt, Gesellschaft und mehr Körperlichkeit, als sie erwartet hatte.
Doch törichterweise hatte sie Noah ihr Herz geschenkt. Nicht, dass er es nicht wert wäre. Aber man konnte niemanden zwingen, ein Geschenk anzunehmen, von dem er gar nicht wusste, dass es existierte.
Grace blieb lange auf, obwohl sie keine nächtliche Verabredung mit Dani und Marissa hatte. Es tat gut, etwas Zeit für sich zu haben, ohne den Ehemann in unmittelbarer Nähe. So konnte sie in Ruhe über ihre Situation nachdenken.
Genau wie die eigensinnige Hauptfigur in seinem Roman, hatte Noah eine unsichtbare Mauer um sich errichtet. Sie kam einfach nicht an ihn heran. Dabei wusste sie ganz genau, dass mehr in ihm steckte.
Jede liebevolle Geste, jede Umsichtigkeit, die er ihr und dem Baby in ihrem Bauch entgegenbrachte, erfüllte sie nicht mit Freude, sondern machte ihr bewusst, wie entfernt er von ihr war. All diese Dinge wären wunderschön, wenn sie aus Liebe geschehen würden …
Sie dachte wieder an Rob, wie begeistert er während ihrer gesamten Schwangerschaft gewesen war. Ständig hatte er ihren Bauch geküsst und mit dem Baby gesprochen. Während Rob sich mit Leib und Seele hingeben konnte, war Noah lediglich in der Lage, ihr materiell Gutes zu tun.
Im Nachthemd stieg sie barfuß die Treppe hoch und betrat das Zimmer, das sie in ein Kinderzimmer umwandeln wollten. Es war ein wunderschöner großer Raum, mit hohen Decken und Schiebefenstern. Es war alles so perfekt, aber auch so leer.
Wenn Noah nicht in der Lage war, eine emotionale Verbindung zu ihr herzustellen, wie sollte er es dann mit seinem Kind schaffen? Würde er auch zu seinem Sohn oder seiner Tochter so distanziert sein? Ihre Bedenken verwandelten sich in Wut. Es war nicht fair! Ihre Tochter hatte den Vater verloren, der sie mehr als alles auf der Welt geliebt hatte, und ihr zweites Kind würde einen Vater haben, der zwar physisch präsent, aber emotional nicht anwesend war.
In den letzten Wochen hatten sich die Dinge verschlechtert. Sie hatte das Gefühl, dass Noah wusste, dass etwas zwischen ihnen nicht stimmte, es jedoch nicht wahrhaben wollte. Er hatte sich zurückgezogen und lebte hauptsächlich in der Welt seines Buches, statt sich der Wirklichkeit zu stellen. Vielleicht machte er es immer so. Vielleicht war er nur deshalb Schriftsteller geworden. Man konnte nicht verletzt werden in einer Welt, wo man selbst die Fäden zog und Gott spielte.
Wie gern würde sie nur ein einziges Mal hinter seine Fassade blicken und den wahren Noah sehen.
Am nächsten Morgen erwachte sie und drehte sich auf die andere Seite. Doch es gab keinen Noah, an den sie sich hätte anschmiegen können. Das gewohnte morgendliche Unwohlsein war wesentlich schwächer heute. Sie hatte sogar richtigen Appetit. Aber worauf?
Toast und Müsli strich sie sofort von der Liste. Es gelüstete sie nach etwas Salzigem. Anchovis vielleicht? Auf keinen Fall. Bacon? Sie schüttelte sich. Vielleicht etwas Scharfes. Chilisoße? Curry? Gingerplätzchen?
Nichts konnte sie wirklich reizen. Vielleicht würde sie etwas im Kühlschrank finden? Grace stand auf und ging in die Küche hinunter.
Noahs Kühlschrank war so groß wie ihr früheres Badezimmer. Entschlossen riss sie die Tür auf und erblickte eine Pappschachtel vom Chinesen mit einem Schild davor.
Liebe Grace,
ich dachte, du magst das vielleicht zum Frühstück.
Noah
Kein Gruß, kein Kuss, nur Noah. Bevor sie den Deckel öffnete, wusste sie bereits, was darin war.
Chow Mein – knusprig gebratene Nudeln mit Fleisch und Gemüse.
Ihr Magen knurrte in Vorfreude.
Da haben wir es wieder! Auf diese Weise brach er ihr jeden Tag das Herz ein
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