Julia Extra Band 0354
immer noch nicht fassen, ich werde Herrin von Mulberry Court sein!“ Sie klatschte in die Hände, kicherte wie ein Schulmädchen und griff nach ihrem Glas, das längst leer war. „Aus dem Lieblingsspiel meiner Kindertage ist Wirklichkeit geworden.“
Sie hatte einen kleinen Schwips, das fiel Oscar erst jetzt auf. Er erhob sich, half ihr beim Aufstehen und reichte ihr die Tasche. Sie hakte sich bei ihm unter, und er führte sie die Treppe hoch zu ihrem Zimmer.
Während Helena in ihrer Tasche nach dem Schlüssel suchte, lehnte sie sich an ihn. Irgendwie hatte sie Probleme mit dem Gleichgewicht. Oscar genoss es, ihren Körper so nah zu spüren. Bei jeder anderen Frau hätte er gewusst, wie die Nacht enden würde. Doch Helena war Helena, und seine Beziehung zu ihr war kompliziert. Deshalb versuchte er, nicht daran zu denken, wie sehr er sie begehrte.
„Solltest du deine Meinung ändern, weil dir Mulberry Court doch zu einsam ist, brauchst du es nur zu sagen. John Mayhew wird bestimmt …“
„Mein Entschluss steht fest“, unterbrach sie ihn. „Es ist eine fabelhafte Idee, das spüre ich.“ Impulsiv hob sie den Kopf und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.
Bevor sie sich wieder abwenden konnte, umfasste Oscar ihr Gesicht mit beiden Händen. Sein Mund kam ihrem gefährlich nahe. Erschrocken wich sie zurück, steckte mit bebenden Händen den Schlüssel ins Schloss und flüchtete in ihr Zimmer.
Sie zog die Tür hinter sich zu und lehnte sich aufatmend dagegen. Das war knapp gewesen! Ihr Herz schlug wie verrückt. Was war nur über sie gekommen, Oscar auf die Wange zu küssen? Es geschah ihr nur recht, wenn er die rein freundschaftliche Geste völlig falsch interpretiert hatte. Trotzdem …
Sie konnte es kaum fassen, Oscar hatte sie küssen wollen! Wäre sie nur einen Moment länger geblieben, wären all ihre Fantasien Wirklichkeit geworden. Woher sie die Kraft genommen hatte, das zu verhindern, war ihr selbst ein Rätsel. Sie war nämlich so benommen gewesen von seiner Nähe, der Wärme seines Körpers und dem Duft seines Rasierwassers, dass sie nur noch eins gewollt hatte: sich an seine Brust zu schmiegen, seine Lippen auf ihren zu spüren und …
Glücklicherweise war sie gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen. Ein zweites Mal würde sie denselben Fehler bestimmt nicht machen. Anders als vor zehn Jahren würde ihr diesmal ein gebrochenes Herz erspart bleiben.
Zwei Zimmer weiter stand Oscar am Fenster und blickte in die Dunkelheit. Eine Frau hatte ihm eine Abfuhr erteilt – eine ganz neue Erfahrung, und eine bittere obendrein.
Alles, was ihm blieb, waren Fantasien über das, was hätte sein können. Wäre es nach ihm gegangen, würde er Helena jetzt entkleiden, langsam und lustvoll, würde sie küssen, die Hände sinnlich über ihren Körper gleiten lassen, bis sie ihn mit derselben verzehrenden Leidenschaft begehrte wie er sie.
Abrupt drehte er sich um, ging ins Bad und stellte sich unter die kalte Dusche. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, betrachtete er sein Gesicht im Spiegel. Die Fältchen um die Augen schienen von Tag zu Tag tiefer zu werden.
Helena dagegen wirkte noch ebenso unschuldig, frisch und süß wie bei ihrer ersten Begegnung.
4. KAPITEL
Es war noch früher Morgen, als Helena aufwachte. Sie richtete sich im Bett auf und legte die Stirn auf die Knie. Sie hatte gut geschlafen und so schön geträumt! Oscar hatte sie umarmt, sie am ganzen Körper gestreichelt und sie leidenschaftlich geküsst …
Wieder musste sie an den vergangenen Abend denken. Wie romantisch das Dinner bei Kerzenschein und Champagner gewesen war, wie angeregt sie sich unterhalten hatten! Doch natürlich hatte sie mit dem Feuer gespielt, als sie Oscar zum Abschied auf die Wange geküsst hatte. Gerade noch rechtzeitig hatte sie sich in ihr Zimmer flüchten können.
Ihre Gefühle fuhren Achterbahn. Konnte es sein, dass sie nach all den Jahren immer noch in Oscar verliebt war? Das würde ihr nichts als Kummer und Leid einbringen. Oscar nämlich brachte ihr nach all den Jahren keine tieferen Gefühle mehr entgegen, das war ihr sonnenklar. Vielleicht hatte er es nie getan. Begehren ließ sich schließlich leicht mit Liebe verwechseln, diese Lektion hatte sie inzwischen gelernt. Doch wenn sie über die Vergangenheit grübelte, half ihr das nicht weiter. Sie musste sich auf die anstehenden Probleme konzentrieren, das war bedeutend klüger. Energisch schwang sie die Beine über die Bettkante und ging ins
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