Julia Extra Band 0354
Marionette. Die Augen geschlossen, murmelte sie etwas vor sich hin. Ohne dass ihre Füße den Boden zu berühren schienen, erreichte sie den Treppenabsatz.
Oscar erkannte die Situation sofort. In wenigen Schritten war er neben ihr, um sie notfalls zu stützen. Doch sicher, Stufe für Stufe, meisterte sie die Treppe. Nun, da er ganz dicht neben ihr war, verstand er auch, was sie sagte.
„Meine Figuren … sind sie noch da?“ Sie hielt sich mit einer Hand am Geländer fest. „Ich will sie sehen. Sie gehören mir, Isobel hat sie mir versprochen. Sie sind alles, was ich möchte, mehr will ich gar nicht. Haben die Kinder sie mitgenommen? Wo sind meine Figuren? Ich muss sie finden.“
Oscar wartete, bis Helena von der untersten Stufe gestiegen war und wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte, erst dann sprach er sie leise an. Er wollte sie lediglich beruhigen, keinesfalls aufwecken.
„Alles ist gut, Helena. Die Figuren stehen an ihrem Platz in der Bibliothek, sie sind sicher, das verspreche ich dir, niemand kann sie dir wegnehmen.“
Sie lächelte kindlich. „Natürlich … Wie dumm von mir … Isobel bewacht sie für mich.“ Sie schwankte leicht, und ihr Kopf fiel ihr auf die Brust.
Oscar schob ihr die Hand unter den Ellbogen, und zusammen machten sie sich auf den Weg zurück zu Helenas Zimmer. Er half ihr beim Hinlegen und deckte sie zu. Besorgt blieb er vor dem Bett stehen und beobachtete sie genau. Doch Helena wirkte entspannt und schien in einen natürlichen Schlaf gefallen zu sein. Sie atmete tief und regelmäßig, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Lippen. Im weißlichen Mondlicht wirkte sie so überirdisch schön, als sei sie nicht von dieser Welt.
Oscar erinnerte die Szene mehr an einen Traum als an die Wirklichkeit. Er ließ sich von der Stimmung einfangen, blieb lange Zeit reglos stehen und sah Helena einfach nur an. Dann beugte er sich vor, küsste ihre Stirn und verließ das Zimmer.
Es war schon neun Uhr, als Helena am Morgen darauf endlich aufwachte. Sie war unausgeschlafen und fühlte sich wie zerschlagen. Sie wusste, sie hatte schlecht geträumt – und alles nur wegen des Anrufs einer Frau namens Callidora, deren Schwester ein Baby verloren hatte.
Ein Blick in den Spiegel bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie sah blass aus, hatte dunkle Schatten unter den Augen, und man hätte denken können, sie habe geweint. Unter der Dusche versuchte sie, sich an ihren Traum zu erinnern. Immer wieder entglitten ihr die Einzelheiten, und sie fand keinen Zusammenhang. Doch plötzlich, wie ein Geistesblitz, kam ihr die Erkenntnis, und sie hatte den Traum deutlich wie einen Film vor Augen.
Sie trug ein schlichtes, jedoch mit edler Spitze eingefasstes weißes Baumwollkleid. Das hochgesteckte Haar war am Hinterkopf mit einer weißen Rosenblüte geschmückt, die zu ihrem Brautstrauß passte. Den hatte sie selbst frühmorgens im Garten gepflückt. Am Arm ihres Vaters schritt sie durch die Kirche zum Altar, wo Oscar auf sie wartete.
Er sah ihr in die Augen, und ihr Herz schien vor Glück zerspringen zu wollen. Doch plötzlich, wie aus dem Nichts, erschien eine Frau mit einem Baby auf dem Arm. Sie gab es Oscar, und er drückte es an sich …
Was für ein verworrener Traum! Helena trat aus der Duschkabine und trocknete sich energisch ab. Doch so fantastisch die Bilder auch gewesen sein mochten, enthielten sie doch eine reale Botschaft. Ihre Liebe zu Oscar hatte keine Zukunft.
Oscar und sie trennten Welten. Das war immer schon so gewesen, nur war es ihr bis jetzt nicht so deutlich bewusst gewesen. Insgeheim hatte sie sich immer noch Hoffnungen auf ihn gemacht. Damit musste jetzt endgültig Schluss sein. Oscar hatte sie längst vergessen und sein Leben mit anderen Frauen geteilt.
Sie versuchte vorsichtig, mit dem Kamm ihr feuchtes Haar zu entwirren. Wenn Mulberry Court doch nur schon verkauft wäre! Plötzlich sehnte sie das Ende ihres Aufenthalts herbei und konnte es kaum erwarten, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und ihr Leben neu zu planen. Das ihr zustehende Geld würde sie nicht anrühren, sondern es anlegen, wie sie es auch mit der Erbschaft ihres Vaters getan hatte.
Sie zog sich an, warf einen letzten Blick in den Spiegel und ging hinunter in die Küche. Oscar war nicht da, doch auf dem Tisch lag ein Zettel mit der Nachricht, er sei nach Dorchester gefahren und komme bald zurück.
Helena zuckte mit den Achseln. Dann würde sie eben allein frühstücken und anschließend
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