Julia Extra Band 159
Musik gehört oder gelesen. Obwohl weder das Buch, das ein früherer Gast in der Villa zurückgelassen hatte, noch die vorgefundenen CDs seinem Geschmack entsprachen, waren die Abende in friedvoller, entspannter Atmosphäre verlaufen. Und als Gifford heute morgen aufgewacht war, hatte er sich so wohl und voller Energie gefühlt, wie schon lange nicht mehr.
Er runzelte die Stirn. Gestern abend hatte er, statt zu lesen, über Cass nachgedacht. Sie war die einzige Frau, die er je gebeten hatte, ihn zu heiraten, die einzige, die er heiraten wollte ! Aber sie hatte abgelehnt. Toll gemacht, Tait, sagte er zu sich selbst.
Sein spontaner Vorschlag hatte nicht nur Cass, sondern auch ihn selbst überrascht. Die Ehe war ihm nie als etwas Erstrebenswertes vorgekommen, ja, er hatte sogar einen richtigen Horror davor gehabt. Aber nun, je länger er darüber nachdachte, desto verlockender wurde der Gedanke. Er war gern mit Cass und dem Baby zusammen, ihm gefiel plötzlich die Vorstellung, eine richtige Familie zu haben. Als der Polizist davon ausging, daß er mit Cass, verheiratet war, hatte Gifford einen unbändigen Stolz darüber gefühlt, daß sie zu ihm gehörte.
Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und ballte sie darin zu Fäusten. Als er gesagt hatte, er hätte kein Problem damit, ein Freund für Cass zu sein, hatte er gelogen. Er wollte mehr als Freundschaft, viel mehr. Er wollte ihren Körper, ihr Herz und ihre Seele ...
„Ich dachte, du wärst Jules", sagte Cass in diesem Moment. „Ist er noch nicht hier?"
„Nein." Sie hörte, wie die Touristen den Eingang des Restaurants erstürmten, und verzog das Gesicht. „Ich habe keine Ahnung, wie wir diese Massen satt kriegen und gleichzeitig für die Getränke sorgen sollen."
„Und wenn ich Jules' Part übernehme?" bot Gifford an.
Sie riß die Augen auf. „Du?"
„Ich kann so gut Bier zapfen wie jeder andere."
„Das schon, aber ..."
„Aber was?"
Aber du könntest mit dem vollen Tablett in der Hand wegen deines Beines hinfallen. Dann würden die Leute besorgt sein und dich bemitleiden. Und genau das hasst du doch, dachte sie.
„Du weißt doch gar nicht, was die einzelnen Drinks kosten", meinte sie ausweichend.
„Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das schon." Da Gifford wild entschlossen zu sein schien, ließ sie es dabei bewenden und ging zu den Touristen, um sie willkommen zu heißen.
Gifford marschierte derweil zur Bar, verschaffte sich einen kurzen Überblick über die Vorräte und legte die Getränkekarte vor sich auf den Tresen. Dann bewaffnete er sich mit Kugelschreiber und Block und ging zu dem nächst der Bar gelegenen Tisch, an dem mittlerweile einige Gäste Platz genommen hatten.
„Wünscht irgend jemand etwas zu trinken?" erkundigte er sich höflich.
Obwohl Mineralwasser im Preis inbegriffen war, entschieden sich die meisten der männlichen Touristen für das heimische Lagerbier. Die Frauen hingegen bevorzugten antialkoholische Getränke oder Wein. Während Cass warme Gerichte, Salate und später Karamelbananen, hausgemachtes Zitronensorbet und Kokosnußkuchen herbeischaffte, sah sie, wie Gifford ständig schwere Tabletts mit gefüllten Gläsern und Flaschen zu den Tischen trug. Bitte, lieber Gott, betete sie im stillen, laß ihn nicht stolpern!
„Mami, Mami, schau doch nur!" ertönte plötzlich ein helles Stimmchen.
Es gehörte einem kleinen, etwa sechsjährigen Mädchen mit blonden Locken und hübschen, geblümten Leggings mit passendem T-Shirt, dem einzigen Kind unter den Gästen.
„Schau, Mami", rief das Mädchen noch einmal und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Gifford, der am Nebentisch gerade Bier servierte. „Guck dir mal das Bein von dem Mann an!"
Cass wurde auf einmal eiskalt. Die Touristen hatten ihre Unterhaltung und ihr Gelächter eingestellt und verfolgten gespannt das Geschehen. Gifford hielt mitten in seinen Bewegungen inne und erstarrte.
„Ja, Liebling", erwiderte die Mutter des Mädchens, eine braunhaarige, junge Frau. „Und nun iß schön dein Eis auf!"
„Aber ..."
„Becky, sei still", sagte der Vater ärgerlich.
„Aber das Bein sieht so häßlich aus!" rief das Mädchen klar und deutlich.
Cass' Magen zog sich krampfhaft zusammen. Alle Touristen starrten Gifford an, der stocksteif mit einem vollen Tablett in den Händen dastand. Die Eltern des kleinen Mädchens sahen aus, als würden sie am liebsten vom Erdboden verschwinden. Cass hätte die Kleine jedoch am liebsten erwürgt. Und sie
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