Julia Extra Band 359
sich, Noelle“, sagte er und sah sie mit dunklem Blick an. Sie hatte das Gefühl, als ob er sie wirklich sehen würde – nicht ihre glänzende Fassade, sondern ihr zerstörtes Selbst, das dahinter lag.
Am liebsten hätte sie sich versteckt, nicht nur vor ihm, sondern vor allem und jedem.
Aber hast du nicht genau das über ein Jahr lang getan?
Ja. Sie hatte den Kopf eingezogen und nur noch versucht zu überleben. Hatte sich versteckt, um die Medien nicht auf sich aufmerksam zu machen. Zu geschlagen, um ihre Mutter ausfindig zu machen, die mit all ihrem Geld auf und davon war. Der Rechtsanwalt hatte ihr von einem Prozess gegen ihre Mutter abgeraten, denn der würde bei einer Niederlage das gesamte Vermögen verschlingen, das sie zurückgewinnen wollte. Es war hoffnungslos.
„Dann klären Sie mich auf, Mr …?“
„Grey.“ Er streckte die Hand aus, und als sie ihm entgegenkam, umschloss er mit seinen starken, männlichen Fingern ihre schmale, blasse Hand. Die fühlte sich auf einmal warm an, viel zu warm. „Ethan Grey.“
Pures Verlangen durchzuckte Ethan, als er Noelles weiche Haut berührte. Es war schon viel zu lange her, dass ein Handschlag ihn dermaßen erregt hatte.
Und das ausgerechnet bei dieser Frau.
Ob das erblich war?
Er schluckte den Abscheu herunter, der bei diesem Gedanken in ihm aufstieg. So etwas würde er niemals als Entschuldigung akzeptieren, schließlich bestimmte er selbst über sein Handeln. Zumindest war er Manns genug, sich die Anziehungskraft einzugestehen – im Gegensatz zu seinem Vater. Damien Grey war ihm in dieser Hinsicht kein großes Vorbild.
Ja, Noelle war schön, aber sie wirkte vor allem zerbrechlich, mit ihrer zarten Figur und der blassen Haut. Als ob sie nicht oft genug draußen wäre. Alles an ihr sah mädchenhaft aus, sie hatte weißblonde Haare und große, blaue Augen mit langen, dichten Wimpern, die sie dunkel getuscht hatte. Sie wirkte wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe.
Der tiefrote Lippenstift, den sie aufgelegt hatte, sollte ihrem Gesicht wohl mehr Farbe verleihen, dabei zeigte er nur, wie abgespannt sie war. Unter den leuchtend blauen Augen bemerkte er dunkle Ringe.
Trotzdem, sie war faszinierend und von einer Schönheit, die nicht von dieser Welt schien.
Sie erinnerte Ethan sehr an ihre Mutter. An deren kalte, beherrschte Ausstrahlung, die in jedem Mann den Wunsch weckte, hinter die kontrollierte Fassade zu blicken. Noelles Mutter war eine Frau, die viele Männer in ihren Bann zog.
All das strahlte auch Noelle aus, aber ebenso Verletzlichkeit, die ihrer Mutter gänzlich gefehlt hatte. Und das machte sie noch anziehender, denn es verleitete einen Mann dazu, sie nicht nur besitzen, sondern auch beschützen zu wollen.
„Freut mich, Sie kennenzulernen“, murmelte Noelle und entzog Ethan die Hand.
Was ihn im Stillen erleichtert aufatmen ließ. „Ich glaube nicht, dass Sie das auch wirklich meinen.“
Das kühle Lächeln, das sie ihm schenkte, erreichte nicht ihre Augen. „Sie haben recht. Aber meine Höflichkeit verbietet mir, etwas anderes zu sagen.“
„Dann kann ich ja froh sein, dass Sie gute Manieren haben“, erwiderte er trocken und fügte hinzu: „Allerdings habe ich nicht vor, in Ihr Haus einzuziehen.“
Sie hob eine Braue. „Nein?“
„Nein. Ich will das Haus zu einem Hotel umbauen.“
„Wie bitte?“
Auch wenn sie um einiges kleiner war als er, strahlte sie Größe und Kraft aus. Noch etwas, das sie mit ihrer Mutter gemein hatte. Zumindest von dem, was er von dieser Frau in Erinnerung hatte. Er war noch jung gewesen, als sein Vater sich wie ein Teenager zu ihr geschlichen hatte. Seine eigene Frau und seinen Sohn hatte er im Stich gelassen, um sich seiner verbotenen Leidenschaft hingeben zu können.
Ethan ballte die Hände zu Fäusten und zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. Er war fertig mit der Vergangenheit. Jetzt war es an der Zeit zu handeln, und deshalb durfte er sich nicht ablenken lassen.
„Wie können Sie so etwas auch nur in Erwägung ziehen?“, fragte sie, ohne seine Antwort abzuwarten. „Dieses Gebäude ist zweihundert Jahre alt. Es … es ist ein architektonisches Juwel und … und es ist mein Zuhause.“ Beim letzten Wort brach ihre Stimme.
Er wusste, dass es das einzige Haus war, das auf ihren Namen eingetragen war. Was mit dem Penthouse im Herzen von Manhattan oder dem Stadthaus in Paris geschehen war, konnte er nicht sagen. Aber als das weitläufige Anwesen hier in die Zwangsvollstreckung
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