Julia Extra Band 359
Anflug von Entsetzen. „Und sie ist damit davongekommen?“
„Es lief ja alles auf ihren Namen“, erklärte Noelle. „Den größten Teil des Geldes habe ich vor meinem achtzehnten Lebensjahr verdient. Und danach hatte ich keinen Grund, irgendetwas an dieser Konstellation zu ändern. Sie hat sich immer um meine Finanzen gekümmert, und ich habe ihr vertraut. Es gibt keinen Vertrag, der festlegt, dass das Geld mir gehört oder dass ich es verdient habe. Und deshalb stehe ich jetzt mit nichts da.“ Sie stockte einen Moment und sah zur Decke. „Nur dieses Haus steht auf meinen Namen.“
Ein altes, leeres Haus, in dem sie allein war, mit Rechnungen, die sie wohl nie würde bezahlen können. Bis eben hatte sie sich irgendwie über Wasser gehalten und nach einer Lösung gesucht … aber jetzt war sie dabei unterzugehen.
Ethan war eigentlich nicht überrascht, dass Noelles Mutter sie derart betrogen hatte. Einer Hexe wie Celine Birch war es egal, was sie anderen antat. So wie es ihr ja auch völlig egal gewesen war, welchen Schmerz sie seiner Mutter zugefügt hatte.
Aber so sehr er Noelles Mutter auch hasste, war es doch sein Vater Damien, der für die Sünden der Vergangenheit zahlen sollte. Und Noelles Notlage bot ihm die perfekte Gelegenheit, seinen Plan in die Tat umzusetzen.
Er achtete nicht auf den leisen Anflug von schlechtem Gewissen, der sich in ihm regte. Dafür hatte er jetzt keine Zeit. Noelle würde bekommen, was sie brauchte. Und auch er selbst bekäme genau das, was er sich wünschte.
Jeder würde gewinnen.
Außer seinem Vater.
„Gehen Sie bald wieder auf Tournee?“, fragte er.
Noelle war seit ihrer Kindheit auf Tournee gewesen. Ethan hatte sie zwar noch nie live erlebt, doch ihr Name war immer wieder in den Zeitungen aufgetaucht. Sie hatte in der Carnegie Hall gespielt, und für die englische Queen. Sie war zu großer Berühmtheit gelangt und hatte sich für mindestens elf Jahre an der Spitze gehalten. Offenbar war von all dem nichts übrig geblieben.
„Ich gehe nicht mehr auf Tournee“, sagte sie mit fester Stimme. „Meine Plattenfirma hat mich fallen lassen, weil mich niemand mehr hören will. Und mein Agent will auch nichts mehr von mir wissen.“ Sie schnalzte mit der Zunge. „Deshalb habe ich mit der Musik nichts mehr am Hut.“
Sie senkte die Lider, und ihre dichten langen Wimpern zitterten über den leicht eingefallenen Wangen, die verrieten, dass sie zu wenig aß. Er konnte sich kaum vorstellen, dass sie seinen Vorschlag zurückweisen würde, zumal er wusste, wie sehr er ihr damit entgegenkam.
Er war versucht, jetzt gleich damit herauszuplatzen.
Doch es war noch zu früh.
„Kommen Sie morgen in mein Büro“, sagte er. „Ich schicke Ihnen gegen Mittag einen Wagen.“
„Warum sollte ich? Damit wir uns darüber unterhalten können, wo genau sie Ihren Pool in meinem hundertjährigen Rosengarten graben?“
„Nicht ganz.“
Er hatte nicht die Absicht, ihr Haus in ein Hotel zu verwandeln. Sicher, ein Hotel in dieser Gegend würde Geld bringen, aber dieser Gewinn wäre nichts im Vergleich zu der Befriedigung, die er empfinden würde, wenn er Rache an seinem Vater übte.
Noelle und ihr Zuhause waren der Schlüssel dafür.
2. KAPITEL
Noelle betrat das weitläufige Marmorfoyer in Ethans Bürogebäude und ging zu dem Aufzug, der sie ins oberste Stockwerk bringen würde.
Selbst der Lift verströmte puren Luxus. Wie sie sich nach all dem sehnte! Exklusive Hotels mit atemberaubendem Ausblick und teuerster Bettwäsche, Wärme und ein Mittagessen, das aus mehr bestand als aus einer Tütensuppe.
Und sie vermisste das Publikum und den Applaus, der nur ihr galt.
„Du bist ein richtiger Jammerlappen“, sagte sie zu sich selbst im leeren Aufzug.
Auch wenn sie wusste, dass es stimmte, blieb die Sehnsucht. Dabei hatte sie nie ein einfaches Leben gehabt. Manchmal hatte sie sich sogar gewünscht, all der Ruhm, die strengen Lehrer und die schrille Stimme ihrer Mutter würden sich in Nichts auflösen.
Nun, da es tatsächlich so gekommen war, sah sie sich einer harten Realität gegenüber, die ihr bisher fremd gewesen war.
Als der Aufzug hielt, sog sie scharf die Luft ein. Ihr drehte sich der Magen um, und ihre Hände zitterten, als würde sie gleich eine Bühne betreten. Das Adrenalin, das durch ihre Adern rauschte, war wie ein Suchtmittel. Auch deshalb vermisste sie ihr früheres Leben als Konzertpianistin.
Nachdem sie aus dem Lift gestiegen war, ging sie zur Rezeption und nannte
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