Julia Extra Band 359
beeindruckte ihn, dass sie sich dessen anscheinend gar nicht bewusst war.
Er beschloss, sie auf keinen Fall aus den Augen zu lassen.
Clementine riskierte einen weiteren Blick über die Schulter, konnte ihn jedoch nicht mehr entdecken. Ihre Euphorie sank auf den Nullpunkt.
Vor ihr war die Unterführung, wie immer dunkel, feucht und leicht bedrohlich wirkend. Da muss ich durch, sagte sie sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Die Stiefel rieben an ihren Fersen, und statt sich weiter ihren sexuellen Fantasien zu widmen, dachte sie darüber nach, was sie noch alles zu erledigen hatte.
Sergej blieb an der Bordsteinkante stehen, als sie in die Unterführung hinabstieg. Mit einem Blick erkannte er, dass er nicht der Einzige war, der sie beobachtete. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprintete er über die Fahrbahnen. Boshe! Herrgott noch mal, diese Frau war komplett verrückt. Sie weiß doch, dass ich ihr nachgehe, dachte er, wie können ihr da diese zwei Typen entgangen sein! Allerdings interessierten die sich weniger für den Schwung ihrer Hüften als für ihre Handtasche.
Man sollte sie wirklich nicht alleine auf die Straße lassen! Zwei Typen, zwei Faustschläge. Er holte aus und streckte den ersten nieder.
Adrenalin durchflutete seinen Körper. Endlich konnte er etwas anderes tun, als nur am Schreibtisch oder im Flugzeug zu sitzen. Er hatte sich immer fit gehalten, boxte regelmäßig, außerdem joggte er jeden Tag. Das Kämpfen lag in seinem Naturell. Jetzt hatte er Gelegenheit dazu.
Natürlich war es nicht wirklich eine Herausforderung. Dem Widerstand des ersten Angreifers setzte er einen Faustschlag entgegen. Unglücklicherweise beschloss die junge Dame ebenfalls, sich zu verteidigen. Sie schwang ihre Handtasche und schlug einem der beiden damit auf den Kopf.
Dadurch wurde er selbst abgelenkt, weshalb er sich einen Schlag gegen sein Kinn einhandelte. Das brachte ihn zur Besinnung. Er reagierte in Sekundenschnelle. Seine Fäuste flogen, trotzdem konnte er nicht verhindern, dass der zweite Typ sich die Tasche schnappte und davonrannte. Sergej ballte hilflos die Hände zu Fäusten.
„Sie haben sie entkommen lassen!“
Die Fremde stemmte entrüstet die Hände in die Hüften. Sergej rieb sich das Kinn. Es war müßig, ihr zu erklären, dass er die beiden natürlich liebend gerne zu Brei geschlagen hätte, es zu ihrer eigenen Sicherheit jedoch für ratsam hielt, sie gehen zu lassen. „Alles in Ordnung?“, erkundigte er sich stattdessen.
„Die haben meine Tasche!“, rief sie hysterisch.
Ausländerin, konstatierte er, vielleicht Engländerin, ihre Stimme dunkel, ein satter Alt, etwas heiser.
„Da haben Sie noch Glück gehabt“, sagte er auf Englisch. „Diese Unterführungen sind gefährlich. Hätten Sie ihren Reiseführer etwas aufmerksamer gelesen, moja krassawitsa , wüssten Sie das!“
Sie sah ihn mit ihren großen grauen Augen vorwurfsvoll an. „Ach! Jetzt ist es also meine Schuld?“, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften, sodass ihre weiße Seidenbluse interessant über den Brüsten spannte.
Boshe! Oh mein Gott! Er erhaschte einen Blick auf schwarze Spitze. Diese Frau ist unmöglich! Weiß sie nicht, wie sie wirkt? Man sollte sie zwingen, einen bodenlangen Kaftan zu tragen. Zu ihrer eigenen Sicherheit.
Am liebsten hätte er ihr sein Jackett über die Schultern gelegt. Dummerweise würde es ihm dann den wundervollen Anblick verwehren.
Von Angesicht zu Angesicht entsprach sie nicht ganz dem Bild, das er sich von ihr gemacht hatte. Von Nahem sah sie noch viel besser aus – und jünger. Eher zwanzig als dreißig. Das lag vermutlich am Make-up, das sie eigentlich gar nicht brauchte, es ließ sie älter wirken. Ihre Haut war makellos und glich einem reifen Pfirsich.
Im Moment allerdings fluchte sie wie ein Matrose und ging nervös auf und ab. Dann, die Hände immer noch in die Hüften gestemmt, drehte sie sich auf dem Absatz um und sah ihn zum ersten Mal wirklich an. Ihr Kampfgeist schien sie zu verlassen. Sergej musterte sie: dichte, lange Wimpern, klare, graue Augen und Sommersprossen auf der Nase.
Entzückend!
„Entschuldigen Sie bitte“, stieß sie hervor. „Wie unhöflich von mir! Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Sie haben mir geholfen, obwohl Sie das nicht mussten. Das werde ich Ihnen nie vergessen.“
Das hatte er nicht erwartet. Er zuckte die Achseln. Sentimentalität lag ihm nicht. Davon abgesehen – sie war ja nun nicht gerade ein Mauerblümchen. In St. Petersburg
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