Julia Extra Band 359
sein – ein drastisches Mittel um zu verhindern, dass Alim die Regentschaft übernahm. Der reaktionäre Flügel sah ihn vermutlich lieber tot als lebendig, weil er in ihren Augen viel zu westlich eingestellt war. Sie würden Amber als Druckmittel einsetzen, um Harun als regierenden Scheich zu behalten. Und dann … würden sie Amber trotzdem töten, um den Weg für eine fruchtbare Ehefrau freizumachen.
Nein!
„Amber!“, schrie Harun. Er stürzte auf die Tür zu, bevor sich diese schließen konnte, warf sich mit der Schulter dagegen und stürmte hindurch. Er wandte sich nach links, rannte den Gang entlang. Plötzlich ein süßlicher Geruch – und dann nichts mehr …
Als Harun wieder zu sich kam, wusste er sofort, dass etwas nicht stimmte. Er fühlte sich schwach und schwindelig, und in seinem Schädel hämmerte ein quälender Schmerz. Seine Augen fühlten sich an wie mit Sand gefüllt, darum musste er zuerst kräftig blinzeln, bevor er in der Lage war, seine Umgebung wahrzunehmen.
Er befand sich in einem unbekannten Raum, auf einem Bett mit einer völlig durchgelegenen Matratze. In der Luft hing der Geruch von Staub.
Blinzelnd blickte Harun sich weiter um. Der Raum war spartanisch möbliert, der einzige Schrank schäbig und zerkratzt, mit Rillen, in denen sich der Schmutz sammelte. Der Teppich auf dem Holzfußboden wirkte mottenzerfressen, die Essgruppe bestand zwar aus geschnitztem Holz, schien aber schon lange nicht mehr poliert worden zu sein. Die Sessel vor dem Fenster sahen durchgesessen und abgewetzt aus, die Vorhänge an den mit Holzschnitzereien umrahmten Fenstern und um das Bett herum waren fadenscheinig.
Harun wollte sich die Augen reiben. Erst da merkte er, dass seine Hände vor seinem Körper mit einem Seidenschal zusammengebunden waren. Würde er es schaffen, die Fessel zu lösen, wenn er nur stark genug daran zerrte? Doch die Seide erwies sich als fester als erwartet. Die Fessel löste sich keinen Millimeter, sosehr er es auch versuchte.
Er stieß einen unterdrückten Fluch aus. Leises Protestgemurmel irgendwo seitlich von ihm ließ ihn stutzen. Eine weibliche Stimme. Es folgten ein tiefer Seufzer und dann die regelmäßigen Atemzüge einer Schlafenden.
Harun warf sich so weit herum, bis sein Nacken schmerzhaft protestierte … und entdeckte auf der anderen Bettseite Amber. Sie war blass und trug nur ein hauchdünnes Negligé in derselben Farbe wie ihre bronzefarbene Haut. Als er an sich hinabblickte, registrierte er seine ebenfalls spärliche Bekleidung – Boxershorts aus hauchzarter Seide.
Ganz offensichtlich hatte man sie beide entführt, aber warum? Ging es um Geld? Um Politik? Was ergab diese Aktion jetzt noch für einen Sinn, wo es ohnehin zu spät war? Wo er die Macht an Alim abgegeben hatte?
Es sei denn … Handelte es sich womöglich um einen raffinierten Plan des al-Shabbat-Clans, um die Machtbasis der al-Kanars in Abbas al-Din zu schwächen? Harun hatte gerade erst einhundert Millionen Dollar für die Freilassung seines Bruders Alim bezahlt. Falls Alim jetzt eine ähnliche Summe für ihn und Amber hinlegen musste, würde es das Land zwar nicht ruinieren, die finanzielle Stabilität jedoch allein durch die Schlagzeilen negativ erschüttern.
Ein plötzlicher Gedanke ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Was, wenn sie auch Alim entführt hatten? Sollten die al-Shabbats dahinterstecken, bedeutete das den sicheren Tod für sie alle drei.
Er musste hier raus, sofort! Hastig setzte er sich auf und blickte sich suchend nach einer Waffe um, nach irgendetwas, womit sich ein Gegner unschädlich machen ließ. Was mit Alim war, wusste er nicht, darum konnte er sich im Moment nicht kümmern. Zuerst galt es, Amber in Sicherheit zu bringen. Allerdings würde sich eine eventuelle Flucht ziemlich würdelos gestalten, da sie beide so gut wie nichts anhatten. Das hatten die Entführer wohl damit beabsichtigt, sie hier so spärlich bekleidet festzuhalten.
Er musste also nicht nur einen Weg hinausfinden, sondern brauchte auch Kleidung. Vorsichtig, um nur ja keinen Lärm zu machen, schwang er die Beine über die Bettkante und stand auf. Aufmerksam erkundete er ihr Gefängnis, spähte aus dem Fenster und erkannte, dass sie sich mindestens im fünften Stock befinden mussten. Vor dem Fenster lag ein Gebetsteppich. Das hatte ihn geweckt, begriff Harun, der Ruf des Muezzin aus einer Moschee in der Nähe.
Behutsam drückte er die Klinke der massiven Doppeltür herunter – und fand sie
Weitere Kostenlose Bücher