Julia Extra Band 359
beschützen! Es gab nur noch diesen einen Satz in seinem Kopf. Wo ist nur meine Selbstbeherrschung? Gleichzeitig traf ihn die Erkenntnis, dass er die Kontrolle, was Clementine betraf, ein für alle Mal verloren hatte.
„Sergej?“, kam zaghaft ihre Stimme.
„Ich weiß gar nichts mehr“, gestand er. „Aber es genügt mir, dass du jetzt in Sicherheit bist.“
„Ja. Jetzt bin ich in Sicherheit, Champ“, antwortete sie rau.
9. KAPITEL
Sergej nahm Kaffeetasse und Handy und ging hinaus auf die Terrasse. Die frische Morgenluft und das Sonnenlicht, das durch das Laub der Bäume fiel, taten ihm immer gut. Hier war sein Refugium, sein Rückzugsort inmitten der hektischen Stadt, eine grüne Oase, um die sich ein Gärtner kümmerte.
Wenn die Menschen in deinem Leben auf deiner Gehaltsliste stehen, ist alles so viel einfacher, dachte er. Klare Abmachungen, keine Gefühle, keine unerquicklichen Szenen.
Nicht wie in der vergangenen Nacht. Das war Gefühl pur, Leidenschaft und wilder Sex. Beinahe hätte er nicht einmal ein Kondom benutzt. Das wäre das erste Mal gewesen.
Bisher hatte er immer an Verhütung gedacht. Die Art Beziehung, in der er darauf verzichten konnte, gab es nicht in seinem Leben.
Er schien nicht ganz bei Sinnen gewesen zu sein und war von dem Gedanken besessen, Clementine haben zu müssen. Diesmal hatte er nicht den einfühlsamen, perfekten Liebhaber, gespielt, er wollte sie einfach nur besitzen, sie sollte ihn nie mehr vergessen können.
Sie erwiderte seine Leidenschaft. Ihr Begehren stand dem seinen in nichts nach, und er nahm sie wieder und wieder. Im Laufe der Nacht wurden seine Berührungen sanfter, zärtlicher, und er flüsterte ihr russische Koseworte ins Ohr, die nie über seine Lippen kämen, wenn die Gefahr bestünde, dass sie sie verstehen könnte.
Diese Nacht ging nicht spurlos an ihnen vorüber, sie hinterließ ein Echo, einen Nachhall. Er bemerkte es an Clementines träumerischem Blick, daran, dass sie im Bad vor sich hinsummte. Er hatte sogar sich selbst dabei ertappt.
Sergej konnte nicht einordnen, was da geschah. Das alles war völlig neu für ihn. Es musste damit zu tun haben, dass er sie auf dem Monitor gesehen hatte. Sie hatte so zerbrechlich gewirkt – und doch wild entschlossen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren, sich mutig in diese Männerwelt hineinzuwagen, ihr Ziel unbeirrbar zu verfolgen. Dass er es nicht schaffte, sie davon abzuhalten, verunsicherte ihn.
Er wusste, dass bei ihm unter der Oberfläche etwas Archaisches lauerte. Seine Großmutter hatte ihm immer von der Leidenschaft seines Vaters erzählt, die an Besessenheit grenzte, von der Eifersucht, von den Szenen, die es zwischen seinen Eltern gab. Er erinnerte sich nur dunkel an seine Kindheit, aber die abrupten, beängstigenden Stimmungsschwankungen seines Vaters steckten ihm noch in den Knochen. Und auch das Bild seiner Mutter stand ihm vor Augen. Sie war zerbrechlich gewesen, ein ätherisches Wesen, den Stürmen des Lebens hilflos ausgeliefert. Bei seiner Geburt war sie achtzehn – und sie starb in dem Alter, in dem er jetzt war.
Auf gar keinen Fall wollte er eine Liebe wie die seiner Eltern erleben. Er brauchte jederzeit die Kontrolle, deshalb musste er die Notbremse ziehen, Abstand zwischen sich und Clementine herstellen. Als hätten seine Gedanken sie herbeigerufen, hörte er sie die Treppe herunterkommen.
Clementine hatte sich nicht gestylt und kein Make-up aufgelegt. Sie trug eine Cargohose und ein T-Shirt. Zum ersten Mal, seit sie fünfzehn war, kam sie sich akzeptiert genug vor, um sich zeigen zu können, wie Gott sie geschaffen hatte. Sergej gab ihr das Gefühl, schön und begehrenswert zu sein. Noch immer spürte sie seine Küsse auf ihren Lippen, seine Liebkosungen, seine Leidenschaft. Sie fühlte sich stark und erfüllt und kam sich wie eine Königin vor.
Ich werde unserer Beziehung eine Chance geben, beschloss sie.
Der einzige Wermutstropfen war, dass Sergej nicht neben ihr lag, als sie am Morgen aufwachte. Wie gerne hätte sie sich an ihn gekuschelt.
Für den Vormittag plante sie, mit ihm über den Bauernmarkt in der Nähe zu schlendern. Es überraschte sie selbst, wie sehr sie sich darauf freute. Am Nachmittag könnten sie ins Kino gehen – eben all das unternehmen, was man in einer ganz normalen Beziehung gemeinsam unternahm.
Sie entdeckte ihn im Flur, wo er mit dem Handy am Ohr auf und ab schritt. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, führte aber sein Gespräch fort. Sie ging in die
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