Julia Extra Band 359
Stich zu lassen, so, wie dein Bruder dich im Stich gelassen hat? Muss ich erst davonlaufen wie er, damit du erkennst, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin?“
Harun wollte etwas sagen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ich kann das nicht mehr. Ich habe drei lange Jahre versucht, unsere Ehe zu retten. Habe versucht, dir zu beweisen, dass Liebe nicht gleichzusetzen ist mit emotionaler Erpressung und Manipulation. Ich bin es satt, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Glaub doch Fadi und nicht mir … Bleib allein und werde glücklich!“
Liebe ist nicht gleichzusetzen mit emotionaler Erpressung und Manipulation. Glaub Fadi …
Genau das war es, was Fadi mit ihm seit frühester Kindheit gemacht hatte. Harun hatte das nicht begriffen, aber Amber. Sie hatte gesehen, dass er sich Fadis Liebe und Bewunderung förmlich erkauft hatte, indem er klaglos tat, was man von ihm verlangte. Ohne Rücksicht auf sich selbst und seine Lebensziele. Fadi hatte das nicht aus Bosheit getan, nein, er hatte es ja selbst nicht besser gewusst. Er hatte sich so verhalten, wie er es von seinen Eltern gelernt hatte. Alim zumindest war es gelungen, diesem Korsett zu entfliehen. Er hatte es auf seinen jahrelangen Reisen um die Welt irgendwie geschafft, lieben zu lernen.
In drei langen Jahren hatte Amber Harun nur um eines gebeten – und er hatte ihr selbst diesen Wunsch abgeschlagen. Weil sie nicht die Mittel angewandt hatte, die er kannte: emotionale Erpressung und Manipulation.
Wenn jemand dich liebt, wird er das Unmögliche von dir verlangen.
Daran hatte er jahrelang geglaubt, er hatte es für normal gehalten.
Amber hatte nicht versucht, ihn zu ändern, oder verlangt, dass er ihr die Sterne vom Himmel holte. Folglich hatte er auch nie daran geglaubt, dass sie ihn liebte. Bis zu diesem Augenblick, in dem es zu spät war und sie ihn verlassen wollte.
Er wollte sie nicht verlieren, konnte die Vorstellung nicht ertragen. „Ich liebe dich.“ Seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren.
Allah, lass sie bei mir bleiben, bitte!
Auf dem Weg zur Tür drehte Amber sich noch einmal um. „Ich fasse es nicht, wie du so grausam sein kannst nach allem, was sie mit dir gemacht haben. Wage es ja nicht, diese Worte noch einmal in meiner Gegenwart auszusprechen“, schluchzte sie.
Dann war sie weg. Harun blieb zurück, allein, und blickte auf die Trümmer seines Lebens zurück.
Harun kämpfte sich die Straße entlang, rannte weiter und weiter, während ihm das Herz in der Brust hämmerte und selbst die durchtrainierten Bodyguards hinter ihm zurückfielen. Viel Schlaf hatte er in der letzten Nacht nicht bekommen. Nach dem Streit mit Amber war er zur Hochzeitsgesellschaft zurückgekehrt, um sich um die Gäste zu kümmern.
Der perfekte Gastgeber, der perfekte Bruder. Warum kann ich nicht auch der perfekte Ehemann sein?
Er wünschte, er wüsste, was Amber von einem perfekten Ehemann erwartete.
Weißt du wirklich nicht, was sie will? regte sich eine leise Stimme in seinem Inneren. Alles, was sie je gewollt hatte, warst du. Aber du hast sie abgewiesen und allein gelassen, bis es zu spät war. Und was möchte sie jetzt? Die Freiheit, um die sie dich vor ein paar Monaten gebeten hatte?
Wieder und wieder musste er an die Worte denken, die sie ihm entgegengeschleudert hatte. Ich dachte, du bist tot. Dass sie dich umgebracht haben. Dass du nie mehr zu mir zurückkehrst. Ich habe versucht, dir zu beweisen, dass Liebe nicht gleichzusetzen ist mit emotionaler Erpressung und Manipulation.
Irgendetwas hatte er nicht richtig begriffen. Es sah Amber nicht ähnlich, ihn grundlos zu verletzen, so viel wusste er inzwischen. Sie hatte ihm gesagt, was Liebe nicht wahr. Aber, verdammt noch mal, was genau machte die Liebe denn aus? Sie schien im Besitz dieses Wissens zu sein und er offenbar blind und taub.
Er hatte gedacht, den Schlüssel zu ihrem Herzen in der Hand zu halten. Die drei magischen Worte: Ich liebe dich. Ein fataler Irrtum, sie hatte ihm ja fast die Augen ausgekratzt.
Warum war alles so furchtbar schiefgelaufen?
Eine Stunde später stand sein Entschluss fest. Es gab nur eine Möglichkeit, die Sache zu klären. Harun drehte sich um und schlug den Weg zum Palast zurück ein − zur großen Erleichterung seiner keuchenden Bodyguards.
Er fand seine Frau im Frauentrakt, wo man ihn zunächst nicht einlassen wollte. Erst nachdem die anderen Frauen sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, passierte er den langen, lichtdurchfluteten
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