Julia Extra Band 359
Als müsste er sich erst vergewissern, dass sein Bruder wirklich heil vor ihm stand. „Endlich … mein kleiner Bruder ist aus der Versenkung aufgetaucht. Was meinst du wohl, wie schwer es war, hier ohne dich auszukommen. Meine Verlobung, die Einarbeitungszeit als neuer Herrscher, da hätte ich dich gerne an meiner Seite gehabt.“
Harun lächelte still in sich hinein. Jetzt siehst du, wie es mir all die Jahre ergangen ist, dachte er, sprach es aber nicht aus. „Falls es dich tröstet, ich habe während der vergangenen Monate Tag und Nacht geschuftet, damit ich wenigstens zu deiner Hochzeit wieder zurück bin.“
Alim furchte die Stirn. „Du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenklappen. Komm, setz dich und trink einen Kaffee. Ich kann keinen Trauzeugen gebrauchen, der während der Zeremonie in Tiefschlaf fällt.“ Alim führte ihn zu einer bequemen Ottomane. Daneben standen auf einem fein ziselierten Tabletttisch eine Mokkakanne samt Mokkatasse. Schwungvoll schenkte er seinem Bruder von der sirupartigen tiefschwarzen Flüssigkeit ein. „Ich schütte das Zeug schon den ganzen Tag in mich hinein.“
Harun schüttelte amüsiert den Kopf. „Kein Wunder, dass du wie aufgezogen wirkst. Weshalb bist du so nervös? Du kriegst doch nicht etwa im letzten Moment kalte Füße?“
„Nein, das nicht. Hana war zwar schon einmal verheiratet, aber die Ehe wurde nie vollzogen, wie du weißt. Es ist ihr erstes Mal heute, unser erstes Mal. Ich …“ Er beendete den Satz nicht, aber Harun verstand seinen Bruder auch so.
„Keine Sorge. Sie liebt dich. Ich habe gesehen, wie sie dich anschaut. Sie betet dich an und kann es wahrscheinlich kaum erwarten, bis es endlich so weit ist.“
„Genau die Antwort, die ich hören wollte.“ Fast zuckte Harun zurück, als Alim ihm die Hand an die Wange legte, so ungewohnt war ihm diese Geste der Zuneigung. „Ich kann kaum glauben, dass du wirklich meinetwegen wiedergekommen bist.“
„Ach, du kennst mich ja“, winkte Harun lässig ab. „Immer zur Stelle, wenn man mich braucht.“
„Ich weiß gar nicht, womit ich dich verdient habe. Aber ich bin überglücklich, dass wir endlich nicht nur Brüder, sondern auch Freunde sind.“ Alims Gesicht wurde ernst. „Jetzt sag mir, wer sind die Drahtzieher der Entführung?“
Harun zog einen Ordner aus seiner Tasche und drückte ihn seinem Bruder in die Hand. „Die Gruppe wurde vollständig zerschlagen, von ihnen droht keine Gefahr mehr. Wie vermutet, handelte es sich um eine fundamentalistische Splittergruppe, die mich als rechtmäßigen Herrscher einsetzen wollten.“
Rasch überflog Alim die ersten Seiten des Ordners. „Bist Du sicher, dass die Gefahr gebannt ist? Mithilfe unserer konservativen Nachbarstaaten könnte die Gruppe sich neu organisieren.“
„Keine Sorge, ich habe mich um alles gekümmert, mein Scheich.“ Harun verbeugte sich lachend. „Ich sagte doch, ich habe Tag und Nacht geschuftet. So, jetzt vergiss das Ganze erst einmal und genieße deine Hochzeit.“ Damit schob er Alim aus der Tür. Eine Beziehung war gekittet. Doch die größte Herausforderung erwartete ihn noch.
Nach der Trauungszeremonie fand sich die Festgesellschaft zu einem erlesenen Bankett zusammen. Scheichs, Präsidenten und First Ladys aus aller Welt genossen die köstlichen Speisen, plauderten, lachten und schmiedeten sicherlich auch die eine oder andere politische Allianz. Das Brautpaar am Kopf der Tafel schien davon nichts mitzubekommen. Selbstvergessen fütterten sie einander mit Leckerbissen, tuschelten verliebt und tauschten feurige Blicke.
Wehmütig dachte Harun, dass seine Hochzeit mit Amber genauso hätte verlaufen können. Hätte er nur geahnt, dass sie ihn genauso sehr wollte wie er sie …
Doch davon war jetzt nichts mehr zu spüren. Die lustvollen Tage ihrer Gefangenschaft schienen vergessen, als hätte es sie nie gegeben. In traditioneller Festkleidung, die nur ihr Gesicht freiließ, saß Amber zwischen zwei First Ladys, in ein angeregtes Gespräch verwickelt. Sie wirkte dünner und blasser, ihre Augen leuchteten nicht, und die Hände hielt sie ruhig auf dem Tisch, anstatt wie sonst temperamentvoll zu gestikulieren.
Als sie ihn an der Seite seines Bruders hatte hereinkommen sehen, hatte sie sich sofort abgewandt. Anschließend hatte sie ihn keines Blickes mehr gewürdigt. Er hatte zwar diskret versucht, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, doch sie ignorierte ihn standhaft. Harun ahnte schon, dass sie sich gleich
Weitere Kostenlose Bücher