Julia Extra Band 361
Vorbild. Als ich nach Vermont gezogen bin, hielt ich es einfach für das Beste. Verstehe mich bitte nicht falsch, ich bedaure es nicht. Mir gefallen der Gasthof, die Berge und das entschleunigte Leben auf dem Land. Dein Onkel hat die wahren Gründe sofort durchschaut, warum ich aus Buffalo weggegangen bin. Auch wenn ich gedacht habe, mein Fortgehen würde meinen Lieben viel Kummer ersparen, bin ich doch weggelaufen, weil ich mich den Tatsachen nicht stellen konnte.
Ich denke noch immer an die Frau und ihre Tochter. Ich sehe noch immer die Angst in ihren Augen, in der Sekunde vor ihrem Tod. Allerdings waren sie nicht die einzigen Unschuldigen, die ich nicht beschützen konnte. Auch bei dir habe ich versagt.
Ich glaube, dass ich es durchgestanden hätte, wenn es nur um meinen guten Ruf gegangen wäre. Auch wenn es für meine Familie und mich bestimmt nicht einfach gewesen wäre. Ich bin nie jemand gewesen, der vor den Dingen davonläuft. Aber dann habe ich von dir erfahren und dich im selben Moment auch schon wieder verloren. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich bin aus Buffalo regelrecht geflüchtet. Das ist mir jetzt klar geworden. Dabei hat mich der Schmerz auf Schritt und Tritt begleitet. Das kam daher, dass ich nicht loslassen konnte.
Ich konnte dich nicht loslassen.
In Wahrheit hast du nur in meinem Herzen gelebt. Und dort wirst du auch bleiben. Für immer. Dennoch muss ich dich loslassen, damit ich Frieden finden kann. Ich werde dich nie vergessen. Genauso wenig wie ich die Frau und ihre Tochter jemals vergessen werde. Ich muss das akzeptieren, was nicht ungeschehen gemacht werden kann. Ich muss nach vorn schauen. Das Leben findet nicht in der Vergangenheit statt. Lange Zeit habe ich gedacht, alles würde gut, wenn die Dinge anders wären. Das ist jetzt vorbei. Denn so findet man sein Glück nie.
Lebewohl, mein kleiner Engel.
Eine Träne fiel auf das Papier. So wie damals, als er den ersten Eintrag in seinem Tagebuch geschrieben hatte. Jetzt war das Tagebuch zu Ende. Jake hatte seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht.
„Jake?“
Er wischte sich die Tränen weg und sah zur Tür. Caro stand dort. „Ja?“
„Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Ich dachte nur, es würde Sie interessieren, dass das Telefon wieder funktioniert. Vor ein paar Minuten habe ich es auf gut Glück abgenommen, und siehe da – es gibt wieder ein Freizeichen.“
Er nickte. „Sehr gut. Dann können Sie ja jetzt Ihren Sohn anrufen.“
„Ja.“ Sie lächelte nicht. „Ist alles in Ordnung?“
„Ich glaube schon.“ Er klappte das Tagebuch zu und drückte es für einen Moment an sein Herz. Dann legte er es zurück in die Schublade. „Ich musste noch etwas Unerledigtes zu Ende bringen.“
10. KAPITEL
Jake saß im Wohnzimmer, als Caro ein paar Stunden später die Treppe hinunterkam. Sie hatte ihm längst eine gute Nacht gewünscht gehabt, war dann aber ruhelos im Zimmer auf und ab gelaufen. An Schlaf war nicht zu denken gewesen.
Etwas Unerledigtes zu Ende bringen.
Was hat er nur damit gemeint? dachte Caro ein ums andere Mal. Sie sah sein Gesicht vor sich, die Tränen, die seine Wange hinuntergelaufen waren.
Jake stand am Kamin und hatte ihr den Rücken zugewandt. Er trug ein schlichtes weißes T-Shirt, das über den breiten Schultern spannte. Seine schmalen Hüften steckten in einer verwaschenen Jeans. In einer Polizeiuniform würde er sicherlich genauso gut aussehen wie in einem maßgeschneiderten Anzug.
„Jake.“
Er drehte sich um. „Ich dachte, Sie wären schon vor Stunden ins Bett gegangen.“
„Ich konnte nicht schlafen. Ich … ich habe mir Ihretwegen Sorgen gemacht.“
Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht nötig.“
Sie nahm es ihm nicht ab. „Sie haben Kummer. Sagen Sie mir einfach, was los ist. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“
Er sah sie für einen Moment prüfend an, bevor er antwortete: „Ich habe gerade einen Schlussstrich gezogen, als Sie hereinkamen.“
Die Erklärung reichte ihr nicht, also schaute sie ihn weiter fragend an.
„Ich habe Tagebuch geführt“, sagte er endlich. „Der Psychologe, der für mein Polizeirevier zuständig war, hat mir dazu geraten. Damit sollte ich während der internen Untersuchung meinen Gefühlen Luft machen. Erst habe ich nichts davon gehalten, bis ich erfahren habe, was Miranda … unserem Kind angetan hat.“
Caro schluckte. „Sie haben also Ihre Gedanken in einem Tagebuch festgehalten?“
„So ungefähr.“ Er zuckte
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