Julia Extra Band 361
einen Weg an die Oberfläche – Sienna brach in Tränen aus.
Andreas wich zurück wie vor einem Waldbrand. „Was zur Hölle …?!“
Sienna wusste, sie sah alles andere als attraktiv aus, wenn sie weinte. Ihre Nase wurde rot und lief, ihre Lider quollen sofort auf, und wenn es erst richtig losging, bekam sie meist auch noch Schluckauf.
„Sienna“, er fasste sie beim Arm, „hör auf damit. Hör sofort auf.“
„Ich kann nicht“, stammelte sie.
Er stieß die Luft aus den Lungen. „Es tut mir leid, ich bin zu weit gegangen.“ Er zog sie in seine Arme. „Komm schon, ma petite , nicht weinen, bitte.“
Sie hätte ihn zurückstoßen sollen, doch irgendwie brachte sie es nicht über sich. Seine Nähe und Wärme fühlten sich so gut an. Seine Hand lag an ihrem Hinterkopf und drückte sie zärtlich an seine Brust, sie konnte seinen Herzschlag an ihrer Wange spüren. In seiner Umarmung fühlte sie sich sicher und geborgen wie nie zuvor. Sie hätte ewig so stehen bleiben können.
Als er sprach, strich sein warmer Atem über ihr Haar. „Das bist doch überhaupt nicht du, ma belle . Ich hätte merken müssen, dass das heute alles zu viel für dich ist. Du hast deine Wohnung und deine Freunde in London zurücklassen müssen, lebst mit mir unter einem Dach und hast dich der Presse präsentieren müssen. Das ist ziemlich viel zu verkraften in so kurzer Zeit.“ Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, als sie undamenhaft schniefte. „Hier, cara .“
Sie trocknete sich die Tränen und steckte die Nase in das Taschentuch. „’Tschuldigung. So was mache ich normalerweise nicht.“
Sanft strich er ihr das Haar aus der Stirn. „Ich war gemein zu dir. Das hilft nicht unbedingt weiter, wenn wir aufeinander angewiesen sind, nicht wahr? Irgendwie müssen wir die Zeit herumkriegen. Mit gegenseitigen Beleidigungen wird es auch nicht schneller gehen.“
Sienna knüllte das feuchte Taschentuch in der Hand zusammen. „Ich entschuldige mich, dass ich dich geschlagen habe.“
Er lächelte schief. „Hast du?“
Sie presste die Lippen zusammen. Sie fühlte sich nicht gern so verletzlich. „Macht es dir viel aus, wenn ich auf das Essen verzichte? Ich würde mich gern zurückziehen. Ich bekomme immer Kopfweh, wenn ich heule.“
„Soll ich dir Kopfschmerztabletten holen?“, erbot er sich.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich brauche nur Ruhe, dann gehen sie von allein weg.“ An der Tür drehte sie sich noch einmal zu ihm um. „Es tut mir wirklich leid, Andreas.“
„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich war derjenige, der die Grenzen überschritten hat.“
Sie kaute an ihrer Lippe. „Ich meinte nicht heute …“
Er erstarrte jäh, es gab nicht den geringsten Hinweis, was hinter seiner Stirn vorgehen mochte. „Geh schlafen, Sienna“, sagte er schließlich. „Wir sehen uns morgen früh.“
6. KAPITEL
Auf der Fahrt in die Provence merkte Sienna, dass Andreas die bewusste Anstrengung unternahm, höflich und umgänglich zu sein. Ob es nun daran lag, dass überall die Presse lauerte, oder ob er ihre Entschuldigung für die Episode vor all den Jahren angenommen hatte, wusste sie allerdings nicht.
Unterwegs erklärte er ihr, dass das Château seit Generationen der Familie seiner Mutter gehörte. Da sein Onkel Jules schon vor Jahren gestorben war, ohne Erben zu hinterlassen, war es nach Evalines Tod automatisch an ihren Ehemann übergegangen.
Zwar sagte er es nicht laut, aber Sienna fühlte seinen Ärger darüber, dass seine Mutter vor ihrem Tod nicht testamentarisch festgelegt hatte, an wen das Schloss weitervererbt werden sollte, vor allem, da Evelyne von der Affäre ihres Mannes mit Siennas Mutter erfahren hatte. Vermutlich hatte Evelyne durch ihren Kampf gegen den Krebs und die Chemotherapie nicht genügend Energie gehabt, um auch noch Erbangelegenheiten zu regeln.
Sienna sah sich überwältigt um, als Andreas schließlich die lange Auffahrt zum Schloss hinauffuhr. Sie hatte Bilder von Château de Chalvy gesehen, aber die konnten der märchenhaften Schönheit des Schlosses nicht Genüge tun. Lavendelfelder, saftige grüne Weiden, sanfte Hügel und im Hintergrund die Berge … Leuchtend rote Mohnblumen tanzten in der lauen Brise, der süße Duft des Sommers hing in der Luft, und Vögel zwitscherten in Bäumen und Büschen.
Der Gedanke, ein eigenes Stückchen Paradies zu besitzen, kehrte wieder zurück, dieses Mal noch viel stärker. Sollte Andreas sie vor Ablauf der sechs Monate verlassen, würde
Weitere Kostenlose Bücher