Julia Extra Band 362
eine dieser Nächte, in denen sich ein Mann wünscht, auf seinem Lieblingshengst durch ein Meer aus Wüstensand zu reiten. Der Himmel wie schwarzer Samt. Sterne wie Leuchtfeuer. Ein elfenbeinfarbener Mond, der die weite Landschaft in sein milchig weißes Licht hüllt.
Aber Scheich Karim al Safir saß nicht im Sattel. Nicht in dieser Nacht. Seine Königliche Hoheit, der Prinz von Alcantar und künftige Thronfolger, flog in fünfundzwanzigtausend Fuß Höhe über der Wüste in seinem Privatjet durch die dunkle Nacht. Auf einem kleinen Glastisch neben ihm wurde eine Tasse Kaffee langsam kalt. Vor ein paar Minuten hatte er angefangen, den Inhalt seines Aktenkoffers zu durchforsten, bis er plötzlich gestutzt und sich gefragt hatte, was er da eigentlich machte. Seit nunmehr zwei Wochen ging er die Unterlagen wieder und wieder durch.
Karim streckte die Hand nach der Kaffeetasse aus und trank. Er brauchte den bitteren Geschmack, die aufmunternde Wirkung des Koffeins. Er benötigte dringend etwas, das ihm half weiterzumachen. Weil er erschöpft war. Körperlich. Geistig.
Und vor allem seelisch.
Wenn er doch bloß ins Cockpit gehen und dem Piloten befehlen könnte zu landen. Jetzt sofort, hier, mitten in der Wüste. Ein verrückter Gedanke! Doch er sehnte sich von ganzem Herzen nach einem Augenblick der Ruhe, nach ein paar tiefen Atemzügen klarer Wüstenluft.
Karim schnaubte. In diesem Land würde er die ersehnte Ruhe ganz bestimmt nicht finden. Dies war nicht die Wüste seiner Kindheit. Alcantar war Tausende von Meilen entfernt, seine sanft gewellten Ebenen aus feinstem Wüstensand endeten an den türkisfarbenen Stränden des Persischen Golfs. Während die Wüste, über die sein Flugzeug gerade flog, an den grellen Neonlichtern von Las Vegas endete.
Karim trank noch einen Schluck von seinem eiskalten Kaffee.
Las Vegas.
Er war bisher nur ein einziges Mal in Las Vegas gewesen. Geschäftlich. Aber die Stadt hatte ihn abgestoßen, sie war ordinär und geschmacklos, wie eine billige Hure mit zu viel Make-up. Deshalb hatte er damals beschlossen, nicht wie geplant dort Geld zu investieren. Auch wenn das sein Bruder offenbar völlig anders gesehen hatte. Rami hatte sich fast drei Monate in Vegas aufgehalten, so lange wie nirgendwo sonst in den letzten Jahren. Auf ihn schien die Stadt einen unwiderstehlichen Reiz ausgeübt zu haben.
Karim lehnte sich in seinem Ledersitz zurück. Der Versuch, nach Ramis Tod die losen Enden im Leben seines Bruders zu verknüpfen, hatte ihm die letzten Illusionen geraubt. Und ihn gezwungen, sich endlich der ganzen Wahrheit über Rami zu stellen.
Die losen Enden verknüpfen. Karim verzog leicht den Mund. So sah es zumindest sein Vater. In Wirklichkeit versuchte Karim, das Chaos zu lichten, das Rami hinterlassen hatte, aber davon wusste der König nichts. Er glaubte, dass sein jüngerer Sohn einfach nicht fähig oder willens gewesen war, erwachsen zu werden, dass er auf einer endlosen Suche nach sich selbst von Ort zu Ort gereist war.
Karim fand, dass so ein Selbstfindungsprozess ein Luxus war, den sich ein Prinz schlicht nicht leisten konnte, aber für Rami schienen andere Maßstäbe zu gelten. Er hatte schon immer eine wilde Seite gehabt und stets Wege gefunden, sich seiner Verantwortung zu entziehen.
„ Du bist der zukünftige Thronfolger, Bruder“, hatte er gesagt und dabei das hübsche Gesicht zu einem Grinsen verzogen. „Ich bin nur der Ersatzerbe.“
Vielleicht wäre ihm ja durch das Einhalten einiger Spielregeln dieser viel zu frühe, hässliche Tod erspart geblieben, aber jetzt war es zu spät für Spekulationen. Rami war mit aufgeschlitzter Kehle auf einer kalten Straße in Moskau verblutet. Als Karim die Nachricht erhalten hatte, war er von seiner Trauer fast überwältigt worden.
Er hatte gehofft, eine Art Frieden zu finden, indem er die Hinterlassenschaft seines toten Bruders ordnete.
Karim atmete tief ein und wieder aus.
Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass es ihm gelang, den Namen seines Bruders reinzuwaschen, indem er dafür sorgte, dass die Menschen, die Rami getäuscht hatte, diesen Namen nicht mehr mit Abscheu aussprachen.
Getäuscht?
Karim hätte fast gelacht. Sein Bruder hatte gespielt. Herumgehurt. Hatte alles geschluckt, was an illegalen Drogen auf dem Markt war. Er hatte sich Geld gepumpt und nie zurückbezahlt, er hatte in Kasinos weltweit horrende Spielschulden und offene Hotelrechnungen hinterlassen.
Karim war um die Welt geflogen, um Ramis Schulden zu
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