Julia Extra Band 364 (German Edition)
zurückzuziehen, wo die Buchhaltung wartete. Das Letzte, womit sie an diesem späten Dienstagnachmittag gerechnet hatte – oder überhaupt irgendwann –, war ein Besuch von Angela!
Sie atmete tief durch, bevor sie sich der Witwe ihres Vaters voll zuwandte, alarmiert von dem wütenden Glitzern in Angelas Augen und den roten Flecken auf ihren Wangen. Ansonsten mangelte es Angelas Erscheinung wie üblich weder an Schönheit noch an Eleganz; das Haar sorgfältig gestylt, das blaue knielange Kostüm betonte ihre ebenfalls blauen Augen, und die schwindelerregend hohen Stilettos ließen ihre schlanken, wohlgeformten Beine im aufregendsten Licht erscheinen. Eine elegante glitzernde Schlange.
„Was soll ich mir wobei gedacht haben?“, fragte Gemini ruhig, während sie ihren Stift bedächtig vor sich auf die Schreibtischunterlage legte.
„Jetzt tu bloß nicht so“, zischte Angela wütend. Dabei kam sie zu Gemini an den Schreibtisch und schaute verächtlich auf sie hinunter. „Das ist wieder mal typisch für dich, diese Selbstgerechtigkeit ist wirklich unerträglich. Aber so viel Hinterhältigkeit hätte nicht mal ich dir zugetraut.“
Gemini verzog keine Miene. „Es ehrt mich, dass ich es offenbar geschafft habe, dich zu überraschen. Obwohl ich leider nicht weiß, wovon du sprichst.“
Angela funkelte sie wütend an. „Das weißt du ganz genau.“
Diese Egozentrikerin stellte Geminis Geduld schon seit Jahren auf die Probe, doch nachdem ihr Vater jetzt tot war, sah Gemini nicht ein, warum sie ihre Abneigung noch länger für sich behalten sollte. Sie stand ungeduldig auf. „Wenn du mir nicht sagst, was du hier willst, muss ich dich leider bitten zu gehen.“
Angelas blaue Augen blitzten wütend. „Vielleicht sagt dir ja der Name Drakon Lyonedes etwas?“
Gemini spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht wich. Drakon? Angela war hier, weil sie wusste, dass Gemini sich wegen Bartholomew House mit ihm in Verbindung gesetzt hatte? Wusste Angela auch, dass sie am Freitag nicht nur morgens, sondern auch abends bei ihm gewesen war? Dass sie sich im Aufzug geküsst hatten? Und, falls ja, wer hatte es ihr erzählt? Das konnte niemand anders gewesen sein als Drakon selbst!
Bedeutete das, dass er sie eben doch belogen hatte, als er abgestritten hatte, mit Angela ein Verhältnis zu haben? „Was soll mit ihm sein?“
Angela schnaubte entrüstet. „Stell dich nicht dumm.“ Sie erdolchte Gemini fast mit Blicken. „Wenn ich bloß daran denke, wie Miles dich immer vergöttert hat. Als könnte sein über alles geliebtes kleines Mädchen kein Wässerchen trüben!“
„Lass meinen Vater da raus, kapiert?“ Gemini ballte ihre Hände so fest zu Fäusten, dass sich ihre Nägel schmerzhaft in ihre Handflächen bohrten.
„Ach ja?“, fragte die ältere Frau höhnisch, während sie sich mit einer schlanken Hüfte gegen den Schreibtisch lehnte. „Miles würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, dass du dich einem Mann wie Drakon Lyonedes an den Hals wirfst.“
„Ich werfe mich niemandem an den Hals!“, protestierte Gemini empört.
„Lügnerin!“ Angela richtete sich auf, straffte die Schultern. „Ich habe schon immer gespürt, dass du Vorbehalte gegen mich hast, Gemini, aber das beruht auf Gegenseitigkeit, glaub mir. Schon allein deshalb, weil du Miles immer viel zu sehr an seine erste, angeblich so wunderbar perfekte Frau erinnert hast.“
„Du warst auf eine Tote eifersüchtig?“, fragte Gemini ungläubig.
„Ich war auf Rosemary nie eifersüchtig.“ Angela starrte sie wütend an.
„Das klingt für mich aber schon so“, widersprach Gemini.
„Was weißt du denn schon, du verwöhntes Balg“, konterte die andere Frau. „Jemand wie du hat doch keine Ahnung vom Leben! Wenn ich bloß daran denke, wie du aufgewachsen bist: in einer riesigen Villa, verwöhnt von nachsichtigen Eltern, mit eigenem Pferd, teuren Privatschulen und viermal Urlaub im Jahr an den exotischsten Orten der Welt. Was weißt du schon, wie es ist, im zwölften Stock eines Mietshauses aufzuwachsen, in einer sechsköpfigen Familie, die sich auf nichts anderes freuen kann als auf den nächsten Scheck vom Sozialamt?“
„Ich … redest du von dir?“
„Oh ja, das tue ich.“ Angela lachte auf. „Mit sechzehn hatte ich die Schnauze voll und bin von zu Hause abgehauen. Ich wollte mich neu erfinden und den einzigen Vorteil ausnutzen, den ich mitbekommen hatte: mein gutes Aussehen. Das war zwar nicht immer ganz einfach, aber am Ende hat
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