Julia Extra Band 366
Sie mich tatsächlich davonjagen.“ Sie hatte den Eindruck, dass der Mann nur mit den Fingern zu schnippsen brauchte, und die Leute im Ort würden ihm helfen. Seit sie hier war, hatte Lucy den Namen Santiago Silva regelmäßig gehört. Alle in der Gegend sangen ein Loblied auf diesen vorbildhaften Menschen. Was Lucy erstaunlich fand, da er ein Banker war – und Banker waren ja heutzutage nicht gerade beliebt.
Der Mann, der vor ihr stand und die Nase über sie rümpfte, ähnelte überhaupt nicht dem warmherzigen, fürsorglichen Menschen, den man ihr beschrieben hatte. Er sah durch und durch wie der selbstherrliche, reaktionäre Gutsbesitzer aus, der von den Leuten erwartete, dass sie vor ihm katzbuckelten.
„Sie haben meinen Bruder kennengelernt.“
Lucy schüttelte den Kopf, dann fiel der Groschen. „Ramon.“ Kurz bevor sie heute Morgen losgegangen war, hatte er angerufen und sie zum Abendessen ins Schloss eingeladen. Meine Güte, war sie froh, dass sie Nein gesagt hatte. Wenn diese Begegnung mit seinem Bruder ein Vorgeschmack war, dann wäre der Abend ein Albtraum geworden! Er wirkte jetzt steif und förmlich. Wie würde er erst in Anzug und Krawatte aussehen? Außer großartig. Lucy verdrängte den Gedanken.
Dass sie den Zusammenhang nicht sofort hergestellt hatte, wunderte sie nicht. Ramon strahlte nicht die selbstherrliche Arroganz aus, die seinem Bruder zu eigen war. Er war ein netter junger Mann. Als Harriet und sie am Tag nach ihrer Ankunft auf dem Parkplatz der Klinik mit dem Auto liegen geblieben waren, hatte Ramon dem alten Wagen ihrer Freundin Erste Hilfe geleistet.
Seitdem war er zweimal auf der Finca gewesen. Beim letzten Mal, erinnerte Lucy sich lächelnd, hatte er ihr geholfen, einen Esel einzufangen. Dabei war Ramon der Länge nach in den Dreck gefallen und hatte seinen schönen Anzug ruiniert. Es war kaum zu glauben, dass er mit diesem Mann verwandt sein sollte.
„Sie werden ihn nicht wieder treffen“, sagte er sanft, fast im Plauderton, aber es war unverkennbar eine Drohung.
Die Wendung, die das Gespräch nahm, verwirrte Lucy. Was sollte das jetzt? Hatte sie einen Fauxpas begangen, als sie die Einladung ins Schloss abgelehnt hatte? Ihrer Freundin wegen war sie sofort beunruhigt. Harriet hatte sich sehr bemüht, hier Teil der Dorfgemeinschaft zu werden. Deshalb tastete Lucy sich vorsichtig vor.
„Nicht?“
„Nein, Miss Fitzgerald, werden Sie nicht.“
„Fährt Ramon weg?“
„Nein, Sie fahren weg.“
Ihr riss der Geduldsfaden. „Würden Sie bitte aufhören, in Rätseln zu sprechen? Was wollen Sie mir eigentlich sagen?“
„Für eine Frau, die zweifellos clever ist, haben Sie schlecht recherchiert“, erwiderte Santiago Silva kalt. „Bis er fünfundzwanzig ist, kommt mein Bruder nur an sein Treuhandvermögen heran, wenn ich es genehmige. Und das werde ich nicht. Zurzeit liegt der Lebensstil meines Bruders ganz in meinem Ermessen.“
„Armer Ramon.“ Er tat ihr leid. Aber sie begriff nicht, warum Santiago Silva meinte, dass die Information für sie von Interesse sei.
„Also verschwenden Sie bloß Ihre Zeit.“
„Meine Zeit kann ich verschwenden, wie ich will.“
„Ich schlage vor, dass Sie weiteren finanziellen Verlusten vorbeugen und sich ein Objekt suchen, dass mehr einbringt.“
Völlig ratlos schüttelte Lucy den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.“
Dass sie sich unwissend stellte, ärgerte ihn. „Ich möchte eine schnelle Lösung des Problems. Wenn Sie sofort abreisen, übernehme ich alle Kosten.“
Bestimmt war sie Gast im einzigen Luxushotel der Gegend. Er konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau wie Lucy Fitzgerald in einer der einfachen ländlichen Frühstückspensionen wohnte.
„Großzügig …“, sagte Lucy spöttisch. „Aber ich weiß noch immer nicht, wovon Sie reden.“
„Ziehen Sie weiter, Lucy. Sie haben auf unschuldig gemacht, und Ihre schauspielerische Leistung ist erstklassig. Leider wird die Nummer mit der Zeit langweilig.“
Lucy richtete sich zu voller Größe auf. Selbst ohne Schuhe überragte sie die meisten und hatte einen Vorteil. Doch Ramons Bruder überragte sie nicht … Er war über ein Meter neunzig groß und hatte kein Gramm Fett zu viel am Körper. Muskeln und Testosteron hatte er dafür mehr als genug.
„Nur meine Freunde nennen mich Lucy.“
„Von denen Sie ja viele haben.“
Sie hatte sich nie für jähzornig gehalten, aber dieser Mann ließ sie ganz neue Seiten an sich entdecken.
„Die
Weitere Kostenlose Bücher