Julia Extra Band 367
„Was macht er jetzt?“
„Er arbeitet immer noch in der Bank. In ein paar Jahren wird man ihn sicher zum Vorstandsvorsitzenden wählen.“ Er lächelte bitter. „Der alte Knabe kennt die Regeln, und wie du ja weißt, bedeuten Regeln meiner Familie alles.“
Audrey hielt sich tapfer auf der Autobahn, aber da sie nicht die Schnellste war, brauchten wir fast fünf Stunden, bis wir Letitia Challoners Herrenhaus in Wiltshire erreichten.
Trotzdem verging die Zeit wie im Flug, wenn George und ich uns über alle möglichen unwichtigen Dinge unterhielten. Es gelang mir, ihn etwas abzulenken, bis ich von der Autobahn abbog und er merklich stiller wurde. Er dirigierte mich über Straßen, die immer schmaler wurden, bis wir durch ein hübsches Dorf in den Wiltshire Downs fuhren.
„Da hinten ist es.“
Er deutete auf ein altes Herrenhaus, das man durch ein hohes Steintor erreichte. Anders als Whellerby Hall fügte es sich harmonisch in die Umgebung ein, und die hellen Steinmauern schimmerten in der Junisonne.
Neben einem sichtlich teuren Geländewagen parkten ein Bentley und ein Rolls-Royce. Die anderen Familienmitglieder waren also offenbar schon eingetroffen.
Der Kies knirschte unter Audreys Reifen, als ich daneben hielt. Ich liebte Audrey, doch selbst mir war klar, dass sie hier völlig deplatziert wirkte. Wieder ein Ort, an den ich nicht gehöre, dachte ich und redete mir ein, dass es mir egal war.
Nachdem ich den Motor abgestellt hatte, herrschte drückende Stille. Es war ein herrlicher Junitag, und die Sonne schien aufs Metalldach. Ich nahm meine Sonnenbrille ab und tat sie ins Etui.
Als George tief durchatmete, legte ich ihm impulsiv die Hand auf den Schenkel.
„Es wird schon gutgehen“, tröstete ich ihn.
Er legte die Hand darauf und drückte sie. „Ich bin froh, dass du hier bist“, gestand er.
Ich wollte gerade sagen, dass ich immer für ihn da sein würde, als ich es mir gerade noch rechtzeitig anders überlegte.
Schnell stieg ich aus. Niemand war aus dem Haus gekommen, um uns zu begrüßen.
Zweifelnd betrachtete ich die massive Eingangstür. „Sollen wir klopfen?“
„Sie sind bestimmt hinten.“ George nahm meine Hand. „Hier entlang.“
Es war ein wunderschönes Anwesen. Wunderschöne alte Strauchrosen standen zwischen den Fenstern, und es duftete nach gemähtem Gras. Alles wirkte sehr gepflegt, auch die Nebengebäude, an die auf einer Seite eine Koppel grenzte. In den hohen Bäumen gurrten Tauben.
Leider war ich viel zu nervös, um die herrliche Umgebung schätzen zu können. Mir war nicht wichtig, ob seine Familienmitglieder mich mögen würden, aber ich hoffte sehr, es würde für George nicht so schlimm sein.
Schweigend führte er mich um die Ecke. Seine Verwandten hatten sich auf einer Terrasse vor den geöffneten Türen versammelt, und als wir über den gepflegten Rasen auf sie zugingen, verstummten sie einer nach dem anderen und wandten sich zu uns um. Seine Anspannung übertrug sich auf mich.
Nach einem Moment völliger Stille kamen zwei Jungen die Stufen herunter auf ihn zugerannt. „Onkel George!“, riefen sie aufgeregt.
„Hallo!“ George breitete die Arme aus und hob sie nacheinander hoch. Dann fielen sie zusammen auf den Rasen.
Ich musste lachen und blickte zu der Gruppe auf der Terrasse, die wie erstarrt dastand. Ein Mann, der George sehr ähnelte, offenbar sein Bruder Harry, betrachtete mit gequälter Miene die Jungen.
Schließlich stand George auf und zog die beiden hoch. „Das sind meine Neffen“, stellte er die beiden lächelnd vor. „Jack, Jeremy, das ist Frith.“
Höflich erwiderten die Jungen meine Begrüßung, doch ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt ihrem Onkel. Ich fand es schön, dass sie sich so über das Wiedersehen mit ihm freuten. Sie waren ungefähr neun und elf Jahre alt und kräftig und hatten die gleichen strahlend blauen Augen.
„Wir wussten gar nicht, dass du auch kommst“, sagte Jack.
Georges Lächeln wirkte nun etwas gequält. „Anscheinend sollte es eine Überraschung werden.“
Er legte jedem von ihnen einen Arm über die Schultern und führte sie zu den Stufen.
Als wir uns der Terrasse näherten, stellte ich fest, dass die Gruppe sich um eine ältere Dame versammelt hatte, die in einem Korbstuhl saß, einen Stock neben sich. Letitia Challoner wirkte zerbrechlich, strahlte allerdings immer noch Autorität aus. Auf mich machte sie einen ebenso überheblichen Eindruck wie ihre Söhne, und ich fragte mich, warum George so an ihr
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