Julia Extra Band 369
Kirchen, Palästen und Bogengängen durchstreift. Sie hatte die Halbinsel Salento erkundet, war durch eine wunderschöne Landschaft bis zum äußersten Zipfel Italiens gefahren, um vom Kap Santa Maria di Leuca über die Adria bis zu den Bergen Albaniens zu blicken.
Und das Wichtigste: Sie hatte ihren festen Vorsatz verwirklicht, nicht ständig an Angela und Liam zu denken – die meiste Zeit jedenfalls.
Cherry schloss kurz die Augen, nahm dann die Karte vom Beifahrersitz und stieg wieder aus. Nur kein Selbstmitleid! Geweint hatte sie die letzten Monate genug, ein Neuanfang war angesagt, und diese Reise war der erste Schritt dazu.
Sie breitete die Karte auf der Motorhaube aus und versuchte, ihre genaue Position zu bestimmen.
Am Morgen, nach dem landesüblichen einfachen Frühstück mit süßem Gebäck und Cappuccino, war sie von ihrer kleinen Pension aufgebrochen. Nach ungefähr fünfzig Kilometern hatte sie die Küstenstraße verlassen und war landeinwärts gefahren. In Alberobello hatte sie Zwischenstation gemacht und das Auto vollgetankt. Sie hatte sich die berühmten Trulli angesehen, wunderschöne, weiß getünchte alte Rundhäuser aus Trockenmauerwerk. Anschließend war sie auf dem Markt gewesen und hatte Feigen und italienischen Kuchen eingekauft – verhungern musste sie also nicht.
Kurz vor Beginn der Siesta hatte sie die Stadt wieder verlassen, um mehr von dieser Gegend zu sehen, die noch so stark vom traditionellen süditalienischen Lebensstil geprägt war. Es war eine Landschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten kaum verändert zu haben schien: endlose Weinfelder und Olivenhaine, dazwischen Pinien und Mandelbäume.
Da Cherry die letzten Kilometer nur unbefestigte Straßen und Feldwege gefahren war, wusste sie nicht genau, wo sie war und wo sich das nächste Dorf befand.
Sie hatte zwar ihr Handy dabei, aber wen hätte sie zu Hilfe rufen sollen? Etwa die Botschaft in Rom oder den britischen Honorarkonsul in Bari? Andere nützliche Nummern hatte sie nicht gespeichert.
Süditalien war für Touristen kein wirklich sicheres Pflaster. Der nette junge Mann vom Autoverleih hatte Cherry eindringlich geraten, niemals Wertgegenstände im Auto liegen zu lassen, es über Nacht nicht auf unbeleuchteten Straßen zu parken und im Dunkeln keinesfalls allein spazieren zu gehen.
Aber das galt doch sicher vor allem für Städte. Was sollte ihr hier auf dem Land zwischen Olivenbäumen und Weinstöcken schon passieren? Wenn sie bloß gewusst hätte, wo genau sie sich befand und wie weit es bis zur nächsten Ortschaft war. Ihr Gepäck, ein großer Koffer und eine vollgestopfte Schultertasche, war zu schwer, um damit einen Ausflug ins Blaue zu wagen. Die Sachen einfach im Auto zurücklassen wollte sie jedoch auch nicht.
Abwarten und sich in Geduld fassen war daher das Vernünftigste. Cherry versuchte, das Beste aus der Situation zu machen, setzte sich im Schatten eines Olivenbaumes auf die Trockenmauer und aß etwas von ihrem Kuchen.
Wäre die Ungewissheit nicht gewesen, hätte sie die schläfrige Mittagsstimmung, die Wärme, das Summen der Insekten und das gelegentliche Zwitschern eines Vogels durchaus genießen können.
Plötzlich hob sie den Kopf. Nein, ihre Ohren hatten sie nicht getäuscht, was sich da in einer dichten Staubwolke näherte, war wirklich ein Auto.
Sollte das der Bauer auf dem Weg zu seinen Feldern sein, würde er nicht gerade begeistert reagieren, wenn ihm ein Fahrzeug den Weg blockierte. Andererseits war er vielleicht ein väterlicher Typ und würde ihr helfen. Cherry wusste, wie unerfahren und hilflos sie auf Fremde wirkte.
Sie war klein und zierlich und wirkte wie siebzehn, obwohl sie bereits vierundzwanzig war. Sie war es gewohnt, ihren Ausweis zeigen zu müssen, wenn sie in die Disco ging …
Erstaunt kniff sie die Augen zusammen. Was sich da näherte, war ein mitternachtsblauer Ferrari!
Cherry sprang von der Mauer, klopfte sich die Kuchenkrümel von der Hose und ging zu ihrem Mietwagen. Sie hielt sich betont aufrecht und wappnete sich für die bevorstehende Begegnung mit einem typisch italienischen Macho. Alles, was sie je über vergewaltigte oder ermordete Touristinnen gehört hatte, schoss ihr plötzlich durch den Sinn.
Mit angehaltenem Atem sah sie zu, wie der Fahrer anhielt, die Tür öffnete und ausstieg. Als Erstes nahm sie seine Größe wahr, der Mann war bestimmt einen Meter neunzig groß. Dann fielen ihr seine breiten Schultern auf, sein markantes Gesicht, der südländische
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