Julia Extra Band 370
hatte keine Wahl gehabt. London war ein sündhaft teures Pflaster, aber Arbeit gab es für sie nur hier, in den Bars und Clubs der Stadt, wo sie singen konnte. Singen war ihr Leben. Auch wenn das Geld, das sie damit verdiente, nicht ausreichte, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sodass sie zusätzlich noch als Putzfrau arbeiten musste. Ihre Stimme war alles, was sie hatte. Und das Einzige, was ihr im Leben wirklich wichtig war.
Sie verriegelte die Wohnungstür und ging ins Bad, um sich ein Bad einlaufen zu lassen. Dabei versuchte sie sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass sie schon Schlimmeres durchgemacht hatte. Sie musste einfach nur positiv denken und sich ihre nächsten Schritte genau überlegen. Und morgen war ein neuer Tag.
Aber nach einer schlaflosen Nacht waren ihre Sorgen nicht kleiner geworden, außerdem hatte sie Halsschmerzen, und ihre Stimme kratzte. Das war der allgegenwärtige Albtraum jeder professionellen Sängerin. Als sie versuchte, ein paar Takte zu singen, brach ihr die Stimme. Roxy fröstelte. Es gab Dinge, mit denen sie umgehen konnte, und andere, die ihr große Angst machten – und die Stimme zu verlieren gehörte zur letzteren Kategorie. Schon fast panisch machte sie sich eine heiße Zitrone mit Honig. Mit dem dampfenden Becher in der Hand setzte sie sich ans Fenster und wählte Martin Murrays Nummer.
Sie hatte ihn schon lange nicht mehr angerufen, während er sich in regelmäßigen Abständen bei ihr meldete, um sie in fast bettelndem Ton zum Essen einzuladen. Aber als er jetzt nach dem zweiten Läuten abnahm, klang seine Stimme wachsam und fast hinterhältig. „Roxy“, sagte er. „Das ist ja eine Überraschung.“
„Ich hatte Besuch“, begann sie ohne Umschweife.
Pause. „Und?“
„Titus Alexander war bei mir in der Garderobe.“
„Und was wollte er?“, kam es vorsichtig durch die Leitung.
Roxy schluckte. „Er hat mich darüber aufgeklärt, dass ich illegal in seinem Apartment wohne, und verlangt, dass ich bis Ende der Woche hier raus bin.“
Sie wartete auf seinen empörten Einspruch. Und wartete. Vergebens. Aber was hatte sie gedacht? Dass Martin Murray ihr sagen würde, dass der Duke log? Dass sie sich keine Gedanken zu machen brauche, weil alles beim Alten blieb? Nein, das hatte sie natürlich keine Sekunde lang geglaubt, obwohl sie es vielleicht gehofft hatte.
„Das tut mir echt leid, Roxy, aber da kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen“, erwiderte Martin schließlich. „Ich muss jetzt an mich selbst denken. Immerhin bin ich zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren arbeitslos.“
Roxy verzichtete darauf, ihn zu fragen, warum er sie angelogen hatte. Weil sie es auch so wusste … genauso wie sie wusste, warum sie sich hatte belügen lassen. Warum sie so entschlossen gewesen war, ihm zu glauben. Die Menschen glauben, weil sie glauben wollen. Es gab nur noch eine einzige Frage, die sie ihm stellen wollte, obwohl sie auch diese Antwort im Herzen bereits kannte.
„Glauben Sie, das meint er ernst?“
Daraufhin ertönte ein Lachen, wie sie es von ihm noch nie gehört hatte, ein bitteres, zynisches Lachen, hohl und resigniert. „Da können Sie Ihren süßen kleinen Hintern darauf verwetten. Der Mann kennt kein Erbarmen. Ich kann Ihnen nur raten, sich schleunigst nach einer neuen Bleibe umzusehen.“
Ihre Hand zitterte, als sie das Telefon weglegte, aber sie wusste, dass sie kein Recht hatte, sich zu beklagen. Sie war selbst schuld. Martin Murray konnte nichts dafür, dass sie kein Geld für eine Kaution hatte. Das war ihr Problem. Genauso wie die Sturheit, mit der sie sich weigerte, ihren Traum aufzugeben, und die Hoffnung, es doch wieder zu schaffen und mit ihrer Karriere an die großen Zeiten anzuknüpfen. Ein Fünkchen Angst flammte in ihr auf, das sie sogleich rigoros zertrampelte. Sie würde eine Lösung finden, ganz bestimmt. Sie brauchte doch nicht mehr als ein kleines Zimmer irgendwo zur Untermiete, vielleicht bei einer Familie, wo sie ein paar leichte Hausarbeiten oder die stundenweise Betreuung der Kinder übernehmen konnte. Warum sollte es so etwas nicht geben?
Aber aus dem Kratzen im Hals entwickelte sich ein böser Husten, und sie fühlte sich zu schwach, um sich eine neue Bleibe zu suchen. Sie konnte sich kaum aufraffen, zu ihrer Putzstelle in einer der großen Villen am Holland Park zu gehen. Und als sie schließlich dort war, musterte die Frau des italienischen Fußballstars, die normalerweise so nett war, sie streng und schickte sie
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