Julia Extra Band 371
Freundin, die so frei von finanziellen Sorgen war und stets die Wahl hatte, wo und wie sie leben wollte.
„So, da sind wir.“
Die Stimme des Chauffeurs riss sie aus ihren Gedanken, während der Wagen vor dem großen Haupteingang des Castellos hielt. Josie stieg aus, strich sich den Rock glatt und sah an dem imposanten Bauwerk empor. Die hohen Mauern und der Turm verliehen dem Castello etwas Märchenhaftes. Es ist so schön hier, dachte Josie bewundernd und strich sich eine Strähne ihres braunen Haares hinters Ohr, die sich aus ihrem strengen Zopf gelöst hatte. Das Holz der mächtigen Eichentür war sonnengebleicht und mit Eisennägeln beschlagen. Mittig auf der Tür prangte das Familienwappen: eine Meerjungfrau, die, so erschien es Josie, fast ein wenig verächtlich auf sie herabblickte.
Hinter ihr fuhr der Chauffeur mit dem Wagen los, um ihr Gepäck zum Hintereingang zu bringen. Wie viele Menschen hier über die Jahrhunderte wohl schon ein- und ausgegangen sind? überlegte Josie. Sie war dankbar, dass nun ihr diese besondere Ehre zuteil wurde, hier Gast sein zu dürfen. Glücklich trat Josie zur Tür und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Dann machte sie sich daran, an dem Eisenring zu ziehen, um die Glocke zu läuten. Aber das war gar nicht so leicht ….
Conte Dario di Sirena langweilte sich. Letzte Nacht hatte er seinen Gästen wie gewöhnlich viel Unterhaltung geboten. Doch nun schliefen alle ihren Rausch aus. Bis in die frühen Morgenstunden hatten sich die Mitglieder des Segelklubs im Weinkeller gütlich getan, mit Ausnahme von Dario. Alkohol übte schon lange keine Anziehungskraft mehr auf ihn aus. Wie üblich war er früh aufgestanden und hatte seine Gäste schlafen lassen. Diese Tatsache an sich wäre völlig in Ordnung gewesen, wenn sie nicht mit der Ermangelung eines Tennispartners einhergegangen wäre. Zwar gab es auf dem Platz eine Ballmaschine, aber die war kein Ersatz für ein echtes Match. Dario zeigte sich zunehmend irritiert darüber, dass zwar alle seine Gastfreundschaft in Anspruch nahmen, aber niemand mit ihm Tennis spielen wollte. War es denn einzig sein illustrer Name, der die Menschen anzog?
Ich wünsche mir doch nur jemanden, der mit mir Tennis spielt; das kann doch nicht so schwer sein, dachte Dario frustriert und köpfte mit seinem Schläger ein paar unschuldige Gänseblümchen. Das tat gut, und schon flog weiteres Grün durch den Sonnenschein. Plötzlich hörte er einen Wagen heranfahren.
Er hielt sich eine Hand über die Augen, um sie gegen die Sonne abzuschirmen, und blickte hinüber zum Haupteingang, vor dem gerade die familieneigenen Limousine hielt. Eine junge Frau stieg aus. Wer ist denn das? fragte sich Dario. Die Freundin von Antonia war es ganz sicher nicht, sie war erst für den zwölften dieses Monats angekündigt. Er schaute auf die Datumsanzeige seiner Uhr und seufzte – heute war der zwölfte! Seit er diesen Titel geerbt hatte, schien ihm das Gefühl für Zeit mehr und mehr zu entgleiten. Ein Tag war wie der andere. Und was hatte er mit all seiner Zeit angefangen? Nicht viel, bis auf ein verbessertes Golf-Handicap und eine beachtliche Summe gesammelter Flugmeilen. Warum machte ihn das nur so unzufrieden? Er konnte doch alles haben, was er sich wünschte.
Alles, außer einem guten Grund, früh aufzustehen.
Dario schulterte seinen Tennisschläger und machte sich auf, die neue Besucherin zu begrüßen. Seine Schwester hatte ihm eingebläut, dass ihre Freundin einzig und allein zu Forschungszwecken hier war und nicht zur … Ablenkung. Überhaupt hatte Antonia ihm Dr. Josie Street so beschrieben, dass Dario schon fast mit einer exzentrische Nonne gerechnet hatte. Doch die junge Frau, die sich gerade mit der Glocke schwertat, war weitaus ansprechender als das.
Obwohl – er musterte sie mit geübtem Augen – sie sich offensichtlich alle Mühe gegeben hatte, ihre natürliche Schönheit zu verbergen. Ihr braunes Haar war streng zurückgebunden und ihre Kleidung formlos und schlicht. Auch ihr ernster Blick passte perfekt in sein Vorstellungsbild einer englischen Akademikerin. Hm … vielleicht sollte ihr mal jemand sagen, dass es im Leben noch mehr gibt als Studium und Lehre, dachte Dario, während er sich ihr näherte.
Als Archäologin war Josie harte körperliche Arbeit gewohnt. Sie wusste, dass sie kein Schwächling war. Doch jetzt scheiterte sie ausgerechnet daran, eine einfache Türglocke zu ziehen. Auch ihr Klopfen klang seltsam schwach und dumpf, so dick
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