Julia Extra Band 371
der Decke bewunderte, war Dario auf der Marmortreppe schon vorausgeeilt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie musste rennen, um ihn einzuholen.
„Ich will Sie nicht aufhalten, Conte Dario. Sie haben bestimmt viel zu tun.“ Ihre Stimme hallte durch die Eingangshalle.
Er drehte sich um und sah vom ersten Treppenabsatz zu ihr hinunter. „Sie sind eine Freundin der Familie, Josie. Für Sie bin ich kein Conte, sondern nur Antonias Bruder. Bitte nennen Sie mich Dario. Und es ist mir wirklich ein Vergnügen, Ihnen Ihr Zimmer zeigen zu dürfen.“
Josie folgte ihm, auch wenn sie ihre Befangenheit nicht gänzlich ablegen konnte.
„Sind Sie sicher, Sie finden es?“ Die vielen Korridore, durch die sie gingen, erinnerten Josie an ein Labyrinth. Und alle sahen mit ihren weiß verputzten Wänden gleich aus.
„Keine Sorge, ich bin hier schon mein ganzes Leben herumgewieselt. Hat Ihnen meine Schwester eigentlich schon mal erzählt, warum der Fußboden hier so glänzt?“
Josie schüttelte den Kopf und lächelte unwillkürlich bei der Vorstellung, wie Dario auf allen vieren den Boden polierte.
„Ich habe Antonia Staubtücher um die Füße gebunden und sie mit ordentlich Schwung durch die endlosen Gänge rutschen lassen. Egal was war, das hat sie immer zum Lachen gebracht.“
„Es ist schwer vorstellbar, dass man an einem so schönen Ort wie diesem unglücklich sein kann“, sagte Josie.
„Viele Leute vergessen, dass das Leben mehr ist als das, was wir oberflächlich wahrnehmen.“ Dario seufzte und öffnete eine Tür. Nun befanden sie sich im ältesten Teil des Schlosses; dem riesigen Wachturm, der mit seinen dicken Mauern einst zum Schutz gebaut worden war. Der modernisierte Turm erstreckte sich über drei Stockwerke, die durch eine Wendeltreppe verbunden waren. Im Erdgeschoss konnte man essen und sich entspannen, im zweiten Stock waren Schlaf- und Badezimmer.
„Und zu guter Letzt“, kündigte Dario an, während sie in den dritten Stock hinaufstiegen, „kommt das sogenannte Sonnenzimmer .“
Sie hatten das Dachgeschoss erreicht und traten in den wohl eindrucksvollsten Raum, den Josie je gesehen hatte. Das kreisförmige und sonnendurchflutete Zimmer hatte nach allen Seiten hin Fenster und besaß überdies eine Glaskuppel. Fast hatte Josie das Gefühl, im Freien zu stehen, nur mit dem Vorteil, dass eine moderne Klimatechnik für eine angenehme Temperatur sorgte.
„Wow …“ Das war alles, was Josie staunend herausbrachte, so überwältigend schön war die Aussicht auf die Landschaft. Um sie herum erstreckten sich die sanften Hügel der Toskana, wogende Felder, Zypressen, die wie Kerzen in den Himmel ragten, Sonnenblumen und Weinberge, so weit das Auge reichte.
„Nach Einbruch der Dunkelheit ist es besonders schön.“ Dario stellte sich zu ihr an das Fenster, vor dem sie stehengeblieben war. „Dann ist die nächtliche Landschaft wie mit schwarzem Samt überzogen … und alles scheint möglich, alles birgt Geschichten. Wenn man die Scheinwerferlichter auf der Straße nach Florenz sieht, fragt man sich unwillkürlich: Sind die Insassen des Wagens glücklich oder traurig? Erwarten sie vielleicht gerade ein Baby? Oder verlässt gerade ein Mann seine Frau? Triumph oder Tragödie? Bei Tag ist vieles nur schwerlich auszumachen, aber sobald es dunkel wird, sieht man in der Ferne die Lichter der Nachbarn: Luigis Haus, Enricos Olivenhain und Federicos Bauernhof.“ Gedankenverloren schaute er aus dem Fenster, und seine Stimme bekam einen leicht wehmütigen Klang. „Manchmal komme ich nachts hierher und überlege, was all die Menschen dort draußen wohl gerade tun.“
Dario stand so dicht neben ihr, dass Josie den angenehmen Duft seines Aftershaves wahrnahm, und überdeutlich wurde sie sich seiner Gegenwart bewusst. Plötzlich breitete sich ein sanftes Kribbeln tief in ihrem Inneren aus.
Was ist nur los mit mir? Ich bin doch ausschließlich wegen meiner Arbeit hier, ermahnte sich Josie. Dario wandte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Erneut durchlief sie ein wohliger Schauer.
Und als wüsste er, was in ihr vorging, schenkte Dario ihr ein atemberaubendes Lächeln.
2. KAPITEL
Josie glaubte fast, in seinen dunklen Augen zu ertrinken. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr, den Blick von ihm abzuwenden. Sie drehte sich um und ging einige Schritte durch den Raum.
„Die Suite ist wirklich ein Traum. Aber ich fürchte, sie sprengt mein Budget. Haben Sie nicht irgendein kleineres Zimmer für
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