Julia Extra Band 371
entdeckte sie ihn bei der Olivenpresse, bei der sie kurz zuvor gewesen war. Er band dort gerade sein Pferd an. Später sah sie ihn von einem der Hügel aus an der Molkerei vorbeireiten. Das ist bestimmt nur ein Zufall, sagte sie sich. Aber was auch immer es war, jedes Mal wenn sich ihre Wege kreuzten, verspürte Josie ein leichtes Kribbeln im Bauch.
Dario wollte den Ausritt nutzen, um in Ruhe nachzudenken und ein wenig Abstand zu gewinnen. Es funktionierte, stellte er fest, wenn auch anders als erwartet. Immer wieder tauchten vor seinem geistigen Auge Bilder von Josie auf, wie sie am Turmfenster stand und ihm am Tor zuwinkte. Dario konnte sich keinen Reim darauf machen, warum er sich so stark von ihr angezogen fühlte. Dummerweise lief sie ihm heute ständig über den Weg. Dabei schien sie ihm stets ein Schritt voraus zu sein. Fast hatte er das Gefühl, ein unsichtbares Band würde sie miteinander verbinden. Aber diese Vorstellung war einfach lächerlich, und Dario schnaubte verächtlich. Trotzdem hielt es ihn nicht davon ab, weiter an sie zu denken.
Alles an Josie wirkte sachlich, von ihrem strengen Zopf bis hin zu ihren robusten Arbeitsstiefeln. Das machte sie für Dario nahezu einzigartig. Er kannte keine Frau, die ihr auch nur ansatzweise ähnelte. Doch warum hielt Josie so stark Abstand? Es wurde allmählich Zeit für ihn, Herr dieser Situation zu werden.
Josie hatte auf einem der Hügel ein schattiges Plätzchen gefunden. Nur leider gab es hier nichts, was sich zu erforschen lohnte. Als sie in einiger Entfernung in einem bewaldeten Tal das verheißungsvolle Glitzern von Wasser sah, machte sie sich direkt auf den Weg dorthin. Das musste das alte Wasserbecken aus antiker Vorzeit sein, das auch auf der Karte eingezeichnet war. Erst als sie das kleine Wäldchen erreicht hatte, blieb sie stehen und schaute sich um. Nach der gleißenden Sonne mussten sich ihre Augen erst an das schummrige Licht gewöhnen.
„Ciao, Josie“, erklang plötzlich eine Stimme ganz in ihrer Nähe.
Josie fuhr herum und erkannte Dario, der neben seinem Pferd lässig an einem Baum lehnte. In seinen Händen hielt er einen großen Strohhut.
„Herrje, haben Sie mich aber erschreckt!“
„Dann habe ich ja erreicht, was ich wollte.“ Er lächelte verschmitzt. „Denn wie ich sehe, haben Sie meine Warnung vor der Sonne ignoriert.“
Misstrauisch sah Josie ihn an. „Laufen Sie mir etwa nach?“
Er stand auf und ging auf sie zu. „Das Gleiche könnte ich Sie fragen.“ Er machte eine kleine Pause, dann reichte er ihr den Hut. „Hier, das ist einer von Antonias Sonnenhüten. Sie wird nichts dagegen haben, wenn Sie ihn tragen. Aber ich wäre sehr enttäuscht, wenn sie ihn genauso wie den Champagner zurückweisen würden.“ Er warf ihr einen Blick zu.
Darios männliche Erscheinung raubte Josie fast den Atem. Trotz seiner Größe hatte er sich fast geräuschlos über den Waldboden bewegt. Sein tiefschwarzes Haar und sein geschmeidiger Gang erinnerten sie an einen Panther, der sich gerade an seine Beute heranpirschte. Sie musste ihn auf Abstand halten, wurde Josie augenblicklich bewusst, nur so konnte sie vor ihm sicher sein.
„Sie tragen ja selbst keinen Hut“, konterte sie forsch.
„Ich bin die Sonne gewöhnt. Aber Sie haben natürlich recht, das ist noch lange kein Freifahrtschein, um ein Risiko einzugehen. Deswegen halte ich mich möglichst im Schatten auf. Auch Ferrari zuliebe.“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf sein Pferd, das gemächlich im Unterholz graste. „Aber ich lebe hier schon von klein auf und kenne die besten Schattenplätze“, sagte er. Plötzlich begannen seine Augen zu funkeln. „Wussten Sie eigentlich, dass der alte Pool ein Geheimnis hat? Wir werden nämlich beobachtet.“
Mit dem Zeigefinger deutete er auf den hinteren Beckenrand.
„Als wir noch Kinder waren, hat Antonia sich mit Wonne vor dem Monster gegruselt, das dort hinter dem Vorhang aus Blättern wohnt.“ Er deutet auf das grüne Dickicht aus Farn und Efeu, hinter dem Wasser in dem Becken plätscherte. „Sie wollte immer, dass ich das Grün beiseite ziehe, und wenn ich es getan habe, ist sie schreiend weggelaufen.“
Josie schaute zu der unscheinbaren Stelle hinüber.
„Ich finde, das sieht nicht besonders unheimlich aus.“
Dario gluckste. „Das sagen Sie jetzt. Aber für ein sechsjähriges Mädchen kann so eine aus Stein gemeißelte Fratze, die dahinter verborgen ist, sehr unheimlich sein. Es heißt, der Wasserspeier stamme aus der
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