Julia Extra Band 372
schließlich ein Ziel. Sie war entschlossen, ihren guten Ruf wiederherzustellen und beruflich voranzukommen.
„Allein?“
Sie errötete. „Ich muss für mein Studium arbeiten“, erwiderte sie verärgert.
„Das weiß ich. Sehr lobenswert.“ Musste er so herablassend klingen? „Aber für heute sind Sie doch fertig. Kommen Sie mit auf einen Drink!“
Der Blick aus seinen blauen Augen hatte eine fast hypnotische Wirkung. „Es ist Weihnachten“, fügte er leise hinzu.
Ihr Kopf schien wie von allein zu nicken, bevor sie länger nachdenken konnte. Ryan hielt bereits ihren Mantel bereit und ließ sie hineinschlüpfen.
Imogen wunderte sich, dass er sich ihretwegen so viel Zeit nahm. „Werden sich die anderen nicht fragen, wo Sie bleiben?“
„Shona ist mit meiner Kreditkarte vorausgegangen und wird sich um alles kümmern. So schnell wird man mich nicht vermissen. Bestimmt sind alle froh, wenn sie die ersten Drinks ohne den Chef genießen können.“
Während Imogen ihren Mantel zuknöpfte, schaltete Ryan ihren Computer aus und geleitete sie zur Tür.
Die Bar lag in einer Seitengasse unweit des Kaufhauses. Sie war klein, intim und wirkte sehr gemütlich. Es war lange her, dass Imogen eine Bar wie diese betreten hatte.
Kein Nachtleben, keine Geselligkeit. All das hatte sie gemieden, seit sie vor acht Monaten in Schottland angekommen war.
Ryan sah sie lächelnd an. „Was möchten Sie? Wein? Einen Cocktail?“
„Ich sagte doch, dass ich nichts trinke.“
„Niemals, Imogen? Nicht einmal zu Weihnachten?“
Er schien sie durchschaut zu haben. Natürlich würde sie gern ein Glas Wein trinken, aber sie traute sich selbst nicht … und schon gar nicht an diesem Abend.
„Ein Glas Prosecco vielleicht am Weihnachtstag. Aber bis dahin sind es ja noch ein paar Wochen.“
„Wie wäre es dann mit einem Glas Rotwein?“
Sie würde schon nicht gleich betrunken umfallen, doch sie wollte kein Risiko eingehen. Seine Gegenwart war schon verführerisch genug, und das Erlebnis am frühen Morgen war ihr eine Warnung. Mit Alkohol im Blut würde sie womöglich alle Vorsicht fahren lassen.
„Ich nehme lieber ein Bitter Lemon.“
„Bitter?“, wiederholte er. „Wie passend.“
Mit einem giftigen Blick ließ sie ihn stehen und gesellte sich zu den anderen. An der U-förmigen Nische war nur noch ein Platz frei. Ryan würde sich einen Stuhl heranziehen müssen. Doch als er wenig später mit den Drinks in der Hand hinzutrat, grinste er nur vergnügt.
„Rutscht ein bisschen zusammen!“
Es wurde eng. Imogens Blut begann zu wallen, als er sich auf den schmalen, frei gewordenen Platz neben ihr drängte. Er war viel zu nah! Ihre Schenkel waren dicht aneinandergepresst, die Arme lagen fast aufeinander. Das schien sogar ihm zu eng, und so legte er seinen Arm kurzerhand hinter ihrem Rücken auf die Lehne. Nun fehlte nicht mehr viel, und sie würde auf seinem Schoß sitzen.
Imogen nippte an ihrem Glas und versuchte, den Gesprächen am Tisch zu folgen. Weihnachtspläne wurden ausgetauscht. Stumm lauschte sie dem fröhlichen Durcheinander der Stimmen. Sie wollte nicht zugeben, wie ihr Weihnachtsfest aussehen würde.
„Was haben Sie denn über die Feiertage vor, Ryan?“, fragte Shona. Imogen spitzte die Ohren.
„Ich fahre nach Hause.“ Sie saßen so dicht nebeneinander, dass Imogen die Bewegungen seines Brustkorbs beim Sprechen spürte.
„Es wird ein großes Familienfest. Meine Eltern, meine Geschwister. Dazu noch einige Onkel und Tanten und jede Menge Cousins und Cousinen.“
„Haben Sie auch blinkende Lichter überall und einen riesigen Santa Claus auf dem Dach, wie man es in amerikanischen Fernsehshows sieht?“ Der Einwurf kam von Angela aus der Marketingabteilung, die gewöhnlich kein Fettnäpfchen ausließ.
Ryan lächelte gutmütig. „Im Garten haben wir einen Baum, den wir mit Lichtern schmücken. Der Baum im Haus trägt nur Papierschmuck, den wir selbst herstellen.“
„Den machen Sie selbst?“ Imogens Frage war heraus, bevor sie darüber nachgedacht hatte.
„Gewiss. Meine Großeltern kamen ursprünglich aus Dänemark, und dort nennt man Weihnachten das Fest der Herzen. Wir schneiden Herzen aus und hängen sie in den Baum. Meine Mutter hat sie über die Jahre alle aufgehoben. Auf der Rückseite stehen unsere Namen und das Datum. Inzwischen ist der Baum reich geschmückt. Es sieht sehr hübsch aus.“
Imogen konnte es kaum glauben. Sie hatte erwartet, dass seine Familie ein Vermögen für einen
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