Julia Extra Band 372
Hier ging es nicht darum, ob sie Zeit hatte oder nicht. Sie hatte Angst vor der Wahrheit. Aber jetzt, wo die Frage gestellt war, wäre es töricht, die Antwort nicht abzuwarten. Abgesehen davon, wusste sie von dem mitfühlenden Ausdruck in seinem Gesicht sowieso schon, dass er schlechte Nachrichten für sie hatte.
Sie lächelte gezwungen. „Ja, ich habe noch Zeit.“
Er holte tief Luft. „Ihr Vater ist gestorben, und Sie haben keine Geschwister.“
Elises Knie wurden ganz weich, und sie war froh, dass Jared die kleine Molly auf dem Arm hatte. Sie ließ sich in einen der beiden Sessel vor dem Schreibtisch sinken.
„Tut mir leid, Elise, aber das Haus fiel Ihnen automatisch zu. Da Sie keinen Kontakt zu Ihrer Großmutter hatten, hielt ich es nicht für nötig, zu erwähnen, dass kein Testament existierte. Alle wussten, dass Miz McDermotts einziges Kind – Ihr Vater – bereits vor Jahren verstorben war. Als wir wie üblich dann einen Privatdetektiv engagierten, hatten wir eigentlich erwartet, keinen Verwandten zu finden, und das Anwesen somit an den Staat fallen würde. Aber siehe da: Er spürte Sie auf. Die Heiratsurkunde Ihrer Eltern und Ihre Geburtsurkunde ließen sich in den Behördenregistern leicht finden.“
„Meine Großmutter hat kein Testament gemacht?“, flüsterte sie schwer getroffen. Sie war tatsächlich allein. Ihrer Großmutter war sie egal gewesen. Keiner interessierte sich für sie.
„Nein. Als ich ihr vorschlug, eins aufzusetzen, verschob sie es immer wieder. Aber ich habe oft genug mit ihr über Persönliches gesprochen. Eine Enkelin hätte sie sicher erwähnt. Sie hat einfach nicht gewusst, dass es Sie gab.“
„Das erklärt auch, warum sie mich nicht angerufen hat, als mein Vater starb.“
Als Mr Collins ihren Gesichtsausdruck sah, sagte er tröstend: „Sie hätte Sie bestimmt gerne kennengelernt, Elise. Es tut mir leid, dass das nie geschehen ist. Und es tut mir sehr leid, Ihnen diese traurigen Nachrichten überbringen zu müssen.“
Elise stand auf und zwang sich zu einem Lächeln. „Ach, schon gut. Das war eins der Szenarien, die ich in Gedanken bereits durchgespielt hatte.“
Der alte Mann nickte. „Gut.“
„Ich komme dann morgen vorbei, um die Dokumente zu unterschreiben.“
„Das reicht auch in ein paar Tagen noch.“
Erst als sie wieder vor der Kanzlei standen, bemerkte Elise, dass Jared die kleine Molly trug. Sie nahm ihm wortlos ihr Töchterchen ab, ihre einzige lebende Verwandte, und drückte sie fest an sich.
Schweigend gingen sie dann die Hauptstraße entlang, vorbei an weihnachtlich geschmückten Schaufenstern.
Auch als sie Molly in die Babytrage legte, wollte sie sich von Jared nicht helfen lassen und nahm anschließend wortlos auf dem Beifahrersitz Platz. Warum behandelt mich das Leben immer so grausam? dachte sie wütend. Und warum hat Jared nicht damit warten können, diese Fragen zu stellen? Was ging ihn das alles eigentlich an?
„Warum haben Sie das getan?“, fragte sie wütend, als er neben ihr saß.
„Was getan? Nach Ihrer Familie gefragt?“
„Ja. Sie hätten mir wenigstens über Weihnachten die Illusion lassen können, dass ich vielleicht doch noch eine Familie habe.“
Jared fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Ich habe Erfahrung mit solchen Dingen. Gleich die ungeschminkte Wahrheit zu erfahren und sich keinen Illusionen hinzugeben, ist immer das Beste in so einer Situation.“
Sie blickte ihn verärgert an. „Ach, wirklich? Es war das Beste für mich und Molly, ihr an unserem ersten gemeinsamen Weihnachtsfest erklären zu müssen, dass sie eines Tages ebenso allein sein wird wie ich jetzt?“
„Nein, aber …“
„Kein Aber. Mein Gott, Jared! Es geht um Weihnachten. Das Fest der Familie! Und da verderben Sie mir einfach aus purer Neugier meine ganze Vorfreude?“
„Ich hätte nicht weiterfahren können, ohne zu wissen, ob Sie nicht vielleicht doch noch einen Anwalt brauchen.“
Sie lachte bitter auf. „Ihnen ging es also nur darum, dass Sie weiterfahren konnten, ohne Schuldgefühle zu haben?“ Sie schüttelte den Kopf. „Sie sind mir ein schöner Retter!“
Jared wollte etwas erwidern, ließ es dann aber. Sein schlechtes Gewissen sagte ihm, dass sie recht hatte. Er hatte gewusst, dass sie sich nach einem Zuhause, nach einer Familie sehnte. Und doch hatte er zuerst an sich gedacht. Es hätte ja wirklich sein können, dass sie einen Anwalt gebraucht hätte – warum aber war er dann nicht einfach noch eine Weile
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