Julia Extra Band 372
anders kommen sollen. Es hätte pures Vergnügen und der Beginn einer herrlichen Affäre sein sollen. Doch statt entspannt und zufrieden zu sein und sich daher zum ersten Mal seit Wochen wieder auf die Arbeit konzentrieren zu können, spielten jetzt seine Gedanken verrückt. Das war höchst ärgerlich.
Imogen versuchte alles, um Ryan aus dem Weg zu gehen. Tatsächlich schaffte sie es auch fast bis zum Ende ihrer Mittagspause. Doch gerade als die Glocken an Santa Claus’ Schlitten zum sechsten Mal an diesem Tag aus den Lautsprechern des Kaufhauses klingelten, tauchte Ryan auf. Er knallte sein Geschenk auf den Packtisch und schien wild entschlossen, verlorenen Boden zurückzuerobern.
„Was ist das denn?“ Wo war nur ihr kundenfreundliches Lächeln geblieben?
„Ein Kaktus. Was sonst?“ Er war auch nicht gerade Mr Friendly.
„Ich wusste gar nicht, dass wir auch Kakteen verkaufen.“
„Tun wir auch nicht. Ich habe ihn woanders besorgt.“
Sie hob den Topf. Missbilligung war ihr ins Gesicht geschrieben.
„Glaubst du, ich missbrauche meine Position, wenn ich das von dir verpacken lasse?“, fragte er.
„Tust du das denn nicht?“
Er holte tief Luft. Das war es also. Sie glaubte, dass er seine Stellung missbrauchte, um sie herumzukriegen. Das war ungerecht. Sie war doch zu ihm gekommen! Er zwang sich zur Ruhe. Es gab nur noch eine Möglichkeit. Er musste es langsam angehen lassen, sosehr ihm das auch widerstrebte. Nur so würde er sie zur Umkehr bewegen können.
„Das Besondere an diesem kleinen Kaktus ist, dass er sehr selten ist. Und obwohl er große, spitze Stacheln hat, ist er es wert, dass man ihn gut pflegt.“
„Ach ja?“
„Ja. Denn wenn er erblüht, ist er wunderschön.“
Imogen ließ sich Zeit mit dem Verpacken, doch sie mied den Blickkontakt.
„Soll ich dir noch etwas über diesen Kaktus sagen?“
„Das ist nicht nötig.“ Ihre Finger zitterten.
„Er hat therapeutische Fähigkeiten.“
„Ach tatsächlich?“
„Ja, wirklich. Er gibt Menschen ein gutes Gefühl. Mich zum Beispiel kann dieser kleine Kaktus ganz besonders glücklich machen.“
Es entstand ein kurzes Schweigen. „Aber du wirst ihn nicht mitnehmen können. Pflanzen sind in Flugzeugen nicht erlaubt“, stellte Imogen dann fest.
„Er ist für jemanden hier in Edinburgh.“
„Dann hoffe ich, dass er ihm gefällt.“
„Das wird er bestimmt. Aber ‚er‘ ist eine ‚sie‘.“
Wie unabsichtlich streiften seine Finger über ihre Hand, als sie ihm das Päckchen überreichte. Sie zuckte zusammen und wurde rot. Und noch immer sah sie ihn nicht an.
Ryan unterdrückte mit Mühe den Drang, sich über den Tisch zu schwingen und Imogen in die Arme zu nehmen. Er musste herausfinden, was sie fühlte. Wie konnte sie ihn erst um eine Liebesnacht bitten und dann aussehen wie ein verängstigtes Kaninchen? Es ergab keinen Sinn. Nicht einmal ansehen mochte sie ihn.
Schließlich tat sie es doch. Ihre Augen waren groß und grün, und in ihrem Blick lag eine Bitte. Doch mit der wollte er sich lieber nicht beschäftigen.
Und wieder ein Tag. Nur noch knapp neunzig weitere Tage, bis die drei Monate mit Ryan überstanden waren. Das musste doch möglich sein, oder nicht?
Aber es war eine schwere Zeit. Wenn es ihr nicht gelang, sich mit Arbeit zu betäuben, stieg ständig die Erinnerung daran auf, wie er sie in den Armen gehalten hatte. Sie konnte seinen Körper fast noch spüren. Diese Erinnerungen waren schmerzhaft.
Selbst am Packtisch konnte sie sich nicht entspannen. Zum wiederholten Mal träumte Bing Crosby von „White Christmas“. Imogen wünschte, sie könne ohne Träume schlafen, denn jede Nacht kam Ryan darin vor.
In Erwartung des nächsten Kunden blickte sie auf. Und da stand er wieder.
Kritisch schaute sie auf das zu verpackende Geschenk. „Ein Fischernetz für Kinder?“
„Eigentlich soll es ein Schmetterlingsnetz sein. Für meine Nichte. Sie ist acht.“
Sie spürte, dass er sie eindringlich betrachtete, und wusste, dass sie blasser war als gewöhnlich. „Schmetterlinge fangen ist grausam. Was soll sie damit machen? Mit Nadeln aufspießen?“
„Fangen, betrachten und wieder fliegen lassen. Vielleicht gefällt es dem Schmetterling in ihrem Garten, und er bleibt.“
„Das Netz wird seine Flügel beschädigen. Dann kann sie ihn auch gleich ganz umbringen.“
Er seufzte. „Also gut, dann ist das eben ein Fischernetz.“
„Fischen ist auch grausam.“
„Nicht mit einem Netz“, entgegnete er. „Es gibt
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