Julia Extra Band 372
Als ich etwa acht oder neun war, meldete meine Mutter sich als Pflegestelle. Seitdem hatten wir immer wieder Pflegekinder im Haus.“
Straßenkinder, Streuner und Störenfriede.
Manchmal ein schreiendes Baby. Ein Kleinkind, das auf seinen dicken Beinchen herumtappte. Stille Kinder oder mürrische Teenager. Eine Sechzehnjährige, die Medikamente aus dem Krankenhaus geklaut und übers Internet verkauft hatte.
„Nicht alle waren schwierig“, fuhr sie fort. „Und es war auch nicht ständig jemand da. Ballochburn ist so abgelegen, dass meine Eltern nicht gerade die erste Wahl für eine Pflegestelle waren. Ich nehme an, es gab eine Anfrage, ob sie jemanden über Weihnachten aufnehmen könnten. Aber zusätzlich zu seiner Arbeitsbelastung ist es für Dad momentan einfach zu viel. Die Kinder werden wohl woanders hingehen müssen.“
Da Jack nichts mehr sagte, fuhr Jill schweigend weiter. Ihre Hoffnung, dass er vielleicht etwas von sich erzählen würde, hatte sich nicht bestätigt. Sie war seltsam enttäuscht. Fast verlegen. Manchmal war sie einfach zu offen, zu vertrauensvoll. Eigentlich hatte sie ihre Lektion doch mittlerweile gelernt.
Jack Sinclair hatte offensichtlich nicht die Absicht, irgendetwas von sich zu erzählen. Nachdem sie seine Wunde behandelt hatte, würde er aus ihrem Leben verschwinden und nichts weiter als den Hauch des Geheimnisvollen hinterlassen.
Doch wieder brach er das Schweigen. „Ihr voller Name ist also Jillian?“
„Ich hasse ihn“, gab Jill mit Nachdruck zurück. „Aber ich sollte mich nicht beschweren.“
„Warum nicht?“
„Beinahe wäre ich Glory genannt worden.“
Jack dachte einen Moment lang nach und meinte dann belustigt: „Ah ja. Tante Faith und Mutter Hope. Da hatten Sie wirklich Glück.“
Diesmal erschien tatsächlich ein kleines Lächeln um seine Mundwinkel. Jill sah ihn an und war erstaunt. Wenn er einmal wirklich lächelte, wäre er absolut umwerfend.
Sofort schrillten alle Alarmglocken in ihrem Kopf. Jill fühlte sich nur selten von Männern angezogen. Aber wenn es geschah, konnte sie sich so intensiv verlieben, dass sie für alles andere blind war. Und wenn sie dann merkte, dass sie sich in den Falschen verliebt hatte, war es längst zu spät.
Nein, das durfte nicht noch einmal passieren.
Auf gar keinen Fall.
Heftig umklammerte sie das Lenkrad und lockerte ihren Griff erst, als sie auf dem Parkplatz des Krankenhauses anhielt.
„Da wären wir“, sagte sie gespielt fröhlich.
Neben einem Kombi mit dem Logo des Sozialamtes stand eine besorgt aussehende Frau, die mit Jills Vater sprach.
Hinter der Frau waren vier Kinder zu sehen, von denen drei weinten.
3. KAPITEL
Das Elend der Kinder schien ansteckend zu wirken.
Jedenfalls bei Jim Metcalf. Böse sah er seine Tochter an. „Wo ist deine Mutter?“
„Sie kann nicht kommen.“
„Warum nicht?“
Jills Blick zeigte ihrem Vater, dass sie Bescheid wusste und er sich seine Frage sehr gut selbst beantworten konnte. Zuerst wirkte er betroffen, dann runzelte er die Stirn. Jill stöhnte innerlich. Egal worum es bei dem Streit auch gehen mochte, ihr Vater fühlte sich im Recht. Er konnte extrem stur sein, und auch ihre Mutter war durchaus in der Lage, auf ihrem Standpunkt zu beharren. Kein Wunder, dass Jill diesen Wesenszug geerbt hatte.
„Wenn ich einfach mal zu ihr gehe und mit ihr rede?“, meinte die Frau mit der besorgten Miene. „Ich weiß, ich hätte nicht einfach so herkommen sollen. Aber ich dachte, wenn sie die Kinder sieht …“
Jill schaute die Kinderschar an. Der Einzige, der nicht weinte, war der Älteste. Ein missmutig dreinblickender Junge von neun oder zehn Jahren. Dunkelhäutig und mit schwarzem Haar, sah er völlig anders aus als der kleinere Junge, der rote Haare hatte, oder das blonde Mädchen mit den hochroten Wangen. Das Mädchen hielt ein Kleinkind an der Hand, das gar keine Haare zu haben schien und so laut schrie, dass Maisie aus der Küche kam.
„Was soll denn dieser Lärm?“, fragte sie.
Jill merkte, dass Jack auch ausgestiegen war, und sie fand das Ganze furchtbar peinlich.
„Schon gut, Maisie. Ich kümmere mich darum“, erwiderte Jill.
Maisie schnaubte ungläubig.
Bella war Jack gefolgt. Obwohl das Geschrei des kleinen Kindes sie einschüchterte, schlich sie dicht an Jill heran und setzte sich auf ihren Fuß. Für einen abgemagerten Hund war sie erstaunlich schwer.
Genauso wie die Hitze, die bei Jill einen unangenehmen Druck im Kopf auslöste, der sich
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