Julia Extra Band 377

worden, denn Alex war es zusehends besser gegangen, und Ally hatte das Abendgymnasium besuchen und das Abitur machen können. Drei Jahre später schloss sie ihr Studium ab. Seitdem arbeitete sie als Börsenanalystin für den Direktor einer in Europa ansässigen Firma und verdiente genug Geld für sich und ihren Zwilling. Alex wurde immer wieder arbeitslos, weil sie krankheitsbedingt außerstande war, geregelter Arbeit nachzugehen. Der letzte Rückfall lag allerdings drei Jahre zurück. Deshalb hatte Ally angenommen, Alex wäre endlich stabil. Und dann der Selbstmordversuch!
    „Ally?“
    Sie zuckte zusammen und bemerkte Vittorios besorgten Blick. Interessierte er sich wirklich für ihr Leben? „Entschuldige. Wie war noch mal die Frage?“
    „Ich habe gefragt, wer sich nach dem Tod deiner Mutter um dich gekümmert hat. Du warst ja noch so jung. Eine meiner Nichten ist jetzt im gleichen Alter wie du damals. Sie vergöttert ihren Vater. Und ich wage nicht einmal, mir vorzustellen, was sie ohne ihre Mutter täte. Du hast plötzlich ganz ohne Eltern dagestanden.“
    Tränen schimmerten in Allys Augen. Tränen, die sie sich zehn Jahre lang versagt hatte. Dieser Mann hatte eine seltsame Wirkung auf sie. Dabei war Vittorio ein Playboy, der es bei keiner Frau lange aushielt. Ally senkte den Blick. „Ich bin bei Pflegeeltern untergekommen“, antwortete sie leise. „Zum Glück gibt es immer noch gute Menschen, die Kinder aufnehmen, die in Schwierigkeiten geraten sind oder einen schweren Schicksalsschlag erlitten haben.“
    Vittorio wunderte sich, dass Rocco Allys schwierige Jugend mit keiner Silbe erwähnt hatte. Vielleicht hatte auch er nichts davon gewusst. Jedenfalls konnte er jetzt nachvollziehen, warum finanzielle Sicherheit so wichtig für Ally war. Oder hatte sie sich diese Geschichte nur ausgedacht, um Mitleid zu erregen, in der Hoffnung, die Männer ließen mehr Geld springen?
    Irgendetwas stimmte an der Geschichte nicht. Das spürte er ganz deutlich. Immer wieder warf sie ihm verstohlene Blicke zu, als fürchtete sie, jeden Moment bei einer Lüge ertappt zu werden. Gerade eben, kurz bevor sie den Blick gesenkt hatte, meinte er, Tränen in ihren wunderschönen saphirblauen Augen entdeckt zu haben. Sein Interesse war geweckt. Vielleicht sollte er Nachforschungen über ihre Vergangenheit in Auftrag geben. Mal sehen, was dabei herauskam.
    „Brauchst du Hilfe beim Packen?“, erkundigte er sich schließlich freundlich.
    „Nein! Nein danke, ich habe ja nicht viel dabei. Die Sachen sind in fünf Minuten gepackt.“
    Vittorio wartete im Wohnzimmer. Er ließ den Blick durch den kleinen Raum schweifen, um vielleicht einen Hinweis auf Alex Sharpes Privatleben zu entdecken. Doch nicht einmal ein Foto stand im Regal. Bisher wusste er nur, dass sie Australierin war, was man aber an ihrem Akzent nicht hörte.
    Von Rocco hatte er auch nicht viel über sie in Erfahrung gebracht. Der hatte ihm nur das Nötigste über seine Affäre mit Alex erzählt. Alex stammte aus Sydney, hatte ein Jahr lang als Verkäuferin im Laden eines Billigmodelabels gearbeitet und war dann nach Rom gezogen. Sein Schwager hatte sich nicht für ihr Leben, sondern nur für ihren hinreißenden Körper interessiert, wie jeder heißblütige Mann. Vittorio konnte das nur zu gut nachvollziehen, denn ihm selbst ging es auch so. Ihre Schönheit, ihr betörender Duft, ihre (gespielt?) scheuen Blicke, ihre subtile Sinnlichkeit hatten ihn sofort magnetisch angezogen. Mehr als einmal musste er den Impuls unterdrücken, sie an sich zu ziehen und ihre sinnlichen Lippen zu küssen. Noch nie zuvor hatte er seine heiße Lust so energisch niederkämpfen müssen. Bisher hatte er sich immer fest im Griff gehabt. Er fing eine Beziehung an, er beendete sie wieder, wenn er begann, sich mit der jeweiligen Frau zu langweilen. Die Vorstellung, etwas mit der abgelegten Geliebten seines Schwagers anzufangen, war ihm ein Gräuel. Wenn man mal von Chiara absah, litt Rocco an Geschmacksverirrung, was Frauen betraf.
    Chiara – ihretwegen nahm er diese Farce auf sich. Um seine Schwester vor Kummer zu bewahren, musste er dafür sorgen, dass die Medien keinen Wind von dem Skandal um Rocco und Alex bekamen. Chiara liebte diesen Windhund und schien seine Schwächen nicht zu sehen. Deshalb war ihr bisher auch nicht bewusst geworden, dass Rocco ihre Liebe nicht erwiderte. Sie hatten erst vor einem Jahr geheiratet. In diesem einen Jahr hatte Rocco seine Frau schon unzählige Male betrogen.