Julia Festival 94
verlaufen, aber wieder nicht ihretwegen, sondern wegen ihres gemeinsamen Kindes. Erst Ben und jetzt das Baby …
Sie liebte Jaspar von ganzem Herzen, mehr, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Auch er war aufmerksam und rücksichtsvoll ihr gegenüber, verwöhnte sie sogar mit kostbaren Geschenken, aber sie konnte nicht vergessen, wie wenig sie seinem Ideal einer Ehefrau entsprach. So bitter es auch war, sie musste ihre Liebe und ihren Stolz vergessen und sich mit dem begnügen, was für sie übrig blieb.
Die Dienerschaft und König Zafirs Gefolge bildeten kniend Spalier, als Freddy die Halle durchquerte und den Speisesaal betrat. Der König saß an der einen Schmalseite des großen ovalen Tischs, Jaspar an der anderen.
Der König winkte Freddy an seine Seite und begann sofort mit einem Verhör. Ihre Bibelkenntnisse stellten ihn zufrieden, während er ihr Wissen auf anderen Gebieten mitunter mangelhaft fand und das auch offen aussprach. Wenn Jaspar ihr zu Hilfe kommen wollte, winkte der König ungnädig ab. Er wünsche nicht, dass sein Sohn ein tyrannischer Ehemann würde, bei dem die Frau schweigen müsse. Wie er Freddy kennengelernt habe, sei sie sehr wohl imstande, für sich selbst zu sprechen.
Es folgte eine eindringliche Predigt über die Voraussetzungen für eine lange und glückliche Ehe, bei der sich der König nicht unterbrechen ließ. Freddy bewunderte die Ruhe, mit der Jaspar zuhörte, ohne die geringste Ungeduld zu zeigen.
Als sich das Gespräch allgemeineren und offizielleren Dingen zuwandte, konnte Freddy aufatmen. König Zafir war nicht so alt, wie sie ursprünglich angenommen hatte, höchstens Ende sechzig oder Anfang siebzig. Er zeichnete sich durch einen starken Charakter aus, verabscheute Dummheit und weigerte sich standhaft, seiner schwachen Gesundheit nachzugeben. Trotz seines schroffen und herrischen Wesens schien er ein gutes Herz zu haben, aber Freddy erkannte sehr schnell, wo Jaspar seine eiserne Selbstdisziplin gelernt hatte: unter der unbarmherzigen Aufsicht seines Vaters.
Nach Beendigung der Mahlzeit folgte Freddy Jaspars stummer Aufforderung und ließ Vater und Sohn allein. In der Bibliothek gab es eine große Abteilung mit englischen Büchern, aus der sie sich schon öfter etwas ausgesucht hatte, um sich die Zeit zu vertreiben.
Nachdem sie eine knappe Stunde gelesen hatte, tauchte Jaspar auf. „Es tut mir leid, dass ich vorhin so viel dummes Zeug geredet habe“, sagte sie, um keine neue Spannung aufkommen zu lassen. „Ist dein Vater fort?“
„Ja, er war nach dem langen Tag ermüdet.“ Jaspar kam näher. „Ich bin stolz auf dich, meine Schöne. Du hast dich nicht von ihm einschüchtern lassen, obwohl er sehr …“
„Bestimmend sein kann?“
„Ein milder, aber zutreffender Ausdruck.“ Jaspar sah ebenfalls müde aus. „Vor einigen Wochen hast du mich gebeten, noch einmal Nachforschungen über deine Familie anzustellen.
Das habe ich getan. Heute Nachmittag ist mir der abschließende Bericht übergeben worden. Damit sind alle noch offenen Fragen geklärt.“
Freddy legte ihr Buch beiseite und stand auf. „Ein Bericht? O bitte … zeig ihn mir.“
„Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn vor dir zu lesen, und muss dich warnen. Er enthält Tatsachen, die dich erschrecken werden.“
Jaspar legte ein zusammengefaltetes Blatt auf den Tisch. Einen Augenblick zögerte Freddy, dann nahm sie das Blatt und faltete es mit sichtlicher Ungeduld auseinander. Sie las … las wieder und sank in ihren Sessel.
„Das kann nicht wahr sein“, flüsterte sie. „Hier steht, dass meine Mutter erst vor zehn Jahren gestorben ist.“
„Ein Irrtum ist diesmal ausgeschlossen. Eine Kopie der Sterbeurkunde deiner Mutter war dem Bericht beigelegt.“ Jaspar ging mit großen Schritten hin und her. „Ich begreife nicht, wie dein Vater dir einreden konnte, sie sei gestorben, als du noch ein Baby warst.“
„Mein Vater sprach nicht gern über meine Mutter“, gestand Freddy. „Ich schob das auf seinen Kummer über ihren Verlust und hütete mich, das Thema anzuschneiden. Dass er mich so belügen konnte …“ Sie barg das Gesicht in beiden Händen. „Aber so schwierig war es gar nicht, mir die Wahrheit zu verschweigen.“
„Inwiefern nicht?“
„Gleich nach dem angeblichen Tod meiner Mutter wechselte er den Beruf und zog in eine entfernte Gegend von England. Er sagte, meine Mutter habe keine lebenden Verwandten, und ich bin auch nie jemandem begegnet, der sie kannte. Als ich
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